Musikbeispiel 1:
Pierre Henry, La Ville (Abschnitt 8 Klaxons)
Sprecher 1:
Wozu braucht es eigentlich Straßenmusik? Unsere Straßen sind
doch sowieso voll Musik. Alle Geräusche dieser Welt, alle Geräusche,
die uns umgeben, sind Musik, wenn man den richtigen Draht dazu findet.
Die Autohupen in Pierre Henrys Klangepos La Ville" hatte man
auch in überaus sinnlicher Weise vor dem Endspiel zur Fußballweltmeisterschaft
1998 in Paris hören können. Die ganze Stadt war getaucht in
ein musikalisches Hupenmeer. Straßenmusik einer etwas anderen Art.
Die moderne Musik
seit Beginn dieses Jahrhunderts hat das Spektrum des Musikalischen extrem
ausgeweitet. Musik ist nicht mehr nur das, was einzelne Komponisten aus
dem tiefsten Herzen hervorbringen, Musik ist vielmehr das auch, was ohnehin
schon ist. Der italienische Futurist schrieb Anfang dieses Jahrhunderts:
Sprecher 2 (Luigi
Russolo):
Wir Futuristen haben die Musik der großen Meister sehr geliebt.
Beethoven und Wagner haben jahrelang unsere Herzen erschüttert. Aber
jetzt haben wir genug von ihnen. Uns wird viel größerer Genuß
aus der idealen Kombination von der Geräusche von Straßenbahnen,
Verbrennungsmotoren, Automobilen und geschäftigen Massen als aus
dem Wiederhören beispielsweise der Eroica und Pastorale zuteil ...
Wir werden uns damit unterhalten, daß wir im Geiste die Geräusche
der Metallrollos vor Ladenfenstern, von zuschlagenden Türen, das
Schlurfen und Drängen der Menge, die Massenunruhe der Bahnhöfe,
Stahlwerke, Fabriken, Druckpressen, Kraftwerke und Untergrundbahnen orchestrieren.
Auch sollten wir die Geräusche des Krieges nicht vergessen.
Musik drunter einblenden
John Oswald, Discosphere, Track 9, Shane ab Sekunde 59
Sprecher 1
Natürlich hat man schnell die Gefahr einer solchen Einstellung gesehen:
Die Ästhetisierung des Krieges, die Ästhetisierung des Alltags
und damit verbunden: Die Ablösung der Klänge von dem, was sie
bedeuten. So groß diese Gefahr auch sein mag, sie ist keineswegs
größer als diejenige, Musik als abgehobene Spezialistentätigkeit
und Religion anzusehen, also die Musik derart zu ästhetisieren, daß
sie keinen Zusammenhang mit der konkreten Lebenswelt mehr bildet. Darum
mag es gar nicht so falsch sein, sich der Musik von einer ganz anderen
Seite her zuzuwenden. John Cage, der große Erfinder musikalischer
Auffassungsmöglichkeiten hat dies an vielen Stellen immer wieder
betont. Sei es, daß er zwischen den Geräuschen der Umwelt und
der komponierten Musik keinen Widerspruch sieht, sei es, daß er
überhaupt einen Weg sucht, die Ohren für das vermeintlich Nebensächliche,
Faktische und ImmerSchonDaseiende zu öffnen.
Sprecher 2 (John
Cage)
Am schönsten war für mich eine Aufführung im letzten Herbst
an der Universität von Wisconsin in Milwaukee, als ich gebeten wurde,
Umweltgeräusche vorzuführen. Es kamen ungefähr 300 Leute
in den Konzertsaal, und ich sprach zu ihnen darüber, welches Vergnügen
Umweltgeräusche bereiten. Anschließend ermittelten wir anhand
von I-Ging"-Zufallsoperationen auf der Karte des Universitätsgeländes
eine Route, die wir innerhalb von 45 Minuten oder einer Stunde zurückgelegt
hatten. Dann sind wir so ruhig wie möglich und auf jedes Geräusch
achtend diese Route durch das Universitätsgelände gelaufen.
Sprecher 1
Wenn man bedenkt, daß in der Antike die Nachahmung der Natur das
Wesen der Kunst begründete und damit zugleich die Kunst an den Ort
der Lüge verwies, weil jede Nachahmung das Original verfehlen muß,
so hat John Cage dies gewiß unfreiwillig für
die neuere Ästhetik wieder zu Bewußtsein gebracht. Die Musik
der Straße gipfelt eigentlich in einem unverstellten Gesamtkunstwerk
aus Sprache, Geräusch, Klang, Geruch, Gebärde, Bewegung, Dialog,
Licht, Dunkelheit, Gesang, Wärme, Kälte, Wind, Berührung,
Zeit, Stille, Musik.
Diese Aufzählung
langsam ausblenden und
Musikbeispiel 3
Ruttmann ab: 4 43" drüber einblenden.
Martin
Hufner
|