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Quelle:
Taktlos No. 8 (Mai)
Straßenmusik

Sendetermin: 7.8.1998 / 20:05 Bayern2Radio
Website taktlos

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Straße als Musik

© 1998 by Martin Hufner (EMail)

Musikbeispiel 1:
Pierre Henry, La Ville (Abschnitt 8 Klaxons)

Sprecher 1:
Wozu braucht es eigentlich Straßenmusik? Unsere Straßen sind doch sowieso voll Musik. Alle Geräusche dieser Welt, alle Geräusche, die uns umgeben, sind Musik, wenn man den richtigen Draht dazu findet. Die Autohupen in Pierre Henrys Klangepos „La Ville" hatte man auch in überaus sinnlicher Weise vor dem Endspiel zur Fußballweltmeisterschaft 1998 in Paris hören können. Die ganze Stadt war getaucht in ein musikalisches Hupenmeer. Straßenmusik einer etwas anderen Art.

Die moderne Musik seit Beginn dieses Jahrhunderts hat das Spektrum des Musikalischen extrem ausgeweitet. Musik ist nicht mehr nur das, was einzelne Komponisten aus dem tiefsten Herzen hervorbringen, Musik ist vielmehr das auch, was ohnehin schon ist. Der italienische Futurist schrieb Anfang dieses Jahrhunderts:

Sprecher 2 (Luigi Russolo):
Wir Futuristen haben die Musik der großen Meister sehr geliebt. Beethoven und Wagner haben jahrelang unsere Herzen erschüttert. Aber jetzt haben wir genug von ihnen. Uns wird viel größerer Genuß aus der idealen Kombination von der Geräusche von Straßenbahnen, Verbrennungsmotoren, Automobilen und geschäftigen Massen als aus dem Wiederhören beispielsweise der Eroica und Pastorale zuteil ... Wir werden uns damit unterhalten, daß wir im Geiste die Geräusche der Metallrollos vor Ladenfenstern, von zuschlagenden Türen, das Schlurfen und Drängen der Menge, die Massenunruhe der Bahnhöfe, Stahlwerke, Fabriken, Druckpressen, Kraftwerke und Untergrundbahnen orchestrieren. Auch sollten wir die Geräusche des Krieges nicht vergessen.

Musik drunter einblenden
John Oswald, Discosphere, Track 9, Shane ab Sekunde 59

Sprecher 1
Natürlich hat man schnell die Gefahr einer solchen Einstellung gesehen: Die Ästhetisierung des Krieges, die Ästhetisierung des Alltags und damit verbunden: Die Ablösung der Klänge von dem, was sie bedeuten. So groß diese Gefahr auch sein mag, sie ist keineswegs größer als diejenige, Musik als abgehobene Spezialistentätigkeit und Religion anzusehen, also die Musik derart zu ästhetisieren, daß sie keinen Zusammenhang mit der konkreten Lebenswelt mehr bildet. Darum mag es gar nicht so falsch sein, sich der Musik von einer ganz anderen Seite her zuzuwenden. John Cage, der große Erfinder musikalischer Auffassungsmöglichkeiten hat dies an vielen Stellen immer wieder betont. Sei es, daß er zwischen den Geräuschen der Umwelt und der komponierten Musik keinen Widerspruch sieht, sei es, daß er überhaupt einen Weg sucht, die Ohren für das vermeintlich Nebensächliche, Faktische und ImmerSchonDaseiende zu öffnen.

Sprecher 2 (John Cage)
Am schönsten war für mich eine Aufführung im letzten Herbst an der Universität von Wisconsin in Milwaukee, als ich gebeten wurde, Umweltgeräusche vorzuführen. Es kamen ungefähr 300 Leute in den Konzertsaal, und ich sprach zu ihnen darüber, welches Vergnügen Umweltgeräusche bereiten. Anschließend ermittelten wir anhand von „I-Ging"-Zufallsoperationen auf der Karte des Universitätsgeländes eine Route, die wir innerhalb von 45 Minuten oder einer Stunde zurückgelegt hatten. Dann sind wir so ruhig wie möglich und auf jedes Geräusch achtend diese Route durch das Universitätsgelände gelaufen.

Sprecher 1
Wenn man bedenkt, daß in der Antike die Nachahmung der Natur das Wesen der Kunst begründete und damit zugleich die Kunst an den Ort der Lüge verwies, weil jede Nachahmung das Original verfehlen muß, so hat John Cage dies – gewiß unfreiwillig – für die neuere Ästhetik wieder zu Bewußtsein gebracht. Die Musik der Straße gipfelt eigentlich in einem unverstellten Gesamtkunstwerk aus Sprache, Geräusch, Klang, Geruch, Gebärde, Bewegung, Dialog, Licht, Dunkelheit, Gesang, Wärme, Kälte, Wind, Berührung, Zeit, Stille, Musik.

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Musikbeispiel 3
Ruttmann ab: 4’ 43" drüber einblenden.

Martin Hufner