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Quelle:
Taktlos No. 27 (März)
Musik und Spaß

Sendetermin: 3.3.2000 / 20:05 Bayern2Radio
Website taktlos

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Hören Sie das Beispiel

 

 

Soziologie des Musikerwitzes

© 2000 by Martin Hufner (EMail)

Musik:
Elegie für Viola sola von Igor Strawinsky (10 Sekunden frei, dann unter dem Text lassen, am Ende wieder aufblenden)

Sprecher:
Es gibt zahllose Musikerwitze. Warum? – So stellt sich gewöhnlicherweise der Philosoph den beharrlichsten Fragen. Eine erste Antwort vorweg: Wie es der Begriff andeutet, so muss man ihn auch verstehen: Musikerwitze sind Witze von Musikern über Musiker. Sie umfassen das Spektrum vom Dirigentenwitz bis zum Triangelspielenden Schlagzeugerwitz.

Im Prinzip handeln sie nur von zwei Phänomenen: Der Unfähigkeit des musizierenden Musikers oder von der Borniertheit der Musiker an sich wie es im „Drei-Musiker-gehen-an-einer-Kneipe-vorbei"-Witz aufscheint. Ein typisches Exemplar des Unfähigkeitswitzes ist der folgende Bratscher-Witz:

„Ein Bratscher begehrt an der Himmelspforte Einlaß. Vor ihm wird ein Pfarrer von Petrus abgewiesen, der Bratscher wird aber eingelassen. Natürlich beschwert sich der Pfarrer, worauf Petrus erwidert: ‘Wenn du gepredigt hast, hat die Gemeinde geschlafen, wenn der Bratscher ein Solo hatte, hat das ganze Orchester gebetet!’"

Wenn es nur um das Faktum ginge, die Unfähigkeit von Musikern zu betonen, müsste aber doch eine Tatsache verwundern. Die Unfähigkeit wird nämlich dezidiert auf bestimmte Musikergruppen projeziert. Beim Orchester oder Streichquartett sind es die Bratscher, im Jazz sind es die Bassisten. Beide Musikergruppe werden zu Sündenböcken par exellence abgestempelt. Das ist zwar psychologisch gesehen ein rationelles Verhalten, aber aus soziologischer Sicht muss man fragen, welche gesellschaftliche Funktion sich darin manifestiert.

War dem Lachen nach Bergsons Theorie wesentlich, dass es die verhärteteten Konventionen durchbrach, so hat sich diese Annahme nach den Analysen Theodor W. Adornos zum sozialen Konflikt in sein Gegenteil verkehrt:

Das Lachen, sagt Adorno „restituiert nicht das Leben gegenüber seinen Verhärtungen, sondern die Verhärtung, wenn nach den Spielregeln allzu anarchische Regungen des Lebendigen jene Lügen zu strafen drohen. ... Das kulminiert in dem der Wut verwandten schallenden Gelächter, mit dem die Meute den Abweichenden zum Schweigen bringt, einem Verhalten, das, wenn die Bedingungen es gestatten, in physische Gewalt umschlägt und dabei noch diese zivilisatorisch rechtfertigt, indem sie sich gebärdet, als wäre alles nur Spaß."

Durch Adornos Analyse kann man schließlich zu der These kommen, dass die klassischen Sündenböcke des Musikerwitzes in Wirklichkeit Orte des Widerstandes sind. Dann verwundert auch keinen mehr die Tatsache, dass Komponisten, wenn sie selbst im Orchester mitspielen, sich regelmäßig zu den Bratschern setzen.

Damit haben wir die philosophische Frage, „es gibt Musikerwitze – warum?" zum Ende geführt. Am Ende treffen diese Witze den Produzenten von Musik. Selbst wenn der Bratscher bewitzt wird, ist der Komponist gemeint. Dieser reagiert mit der Methode, den Musikern den Spaß an der Musik so weit wie möglich zu verleiden – außer den Bratschisten, für die er immer vorzügliche Partien schreibt.

Martin Hufner