Wieviel Musik genügt, um die Substanz einer musikalischen Interpretation
zu erkennen? Zehn Sekunden, dreißig Sekunden, eine Minute, die komplette
Dauer eines Werkes? Zirka dreißig Sekunden reichen hin. Das jedenfalls
meint der Plattenladen Saturn in München. Dort hat man
Abspielstationen eingerichtet, bei denen man einfach den Strichcode der
gewünschten CD unter ein Scanner-Lesegerät hält. Aus dem
Fundus eines Datenspeichers werden dann die Stücke der gewünschten
CD in den 30-Sekundenhappen gespielt, Track für Track. Damit setzt
Saturn Ergebnisse aus Forschungen der Musikpsychologie um,
wonach etwa 20 bis 40 Sekunden genügen, um sich ein relativ eindeutiges
emotionales Urteil über die gespielte Musik zu bilden. Diese Zeit
mag ja auch oftmals reichen, um einen Popsong emotional zu erfassen, aber
wie steht es denn mit der traditionellen E-Musik oder dem modernen Jazz?
Die Einleitung von Wagners Rheingold bleibt im Trüben, im Jazz hört
man meinethalben nur Schlagzeug- und Bassgesurre. Das saturnische Ästhetikideal
wenn es sich denn durchsetzen würde ist gut für
Kompositionen, die schnell zur Sache kommen, die auf den ersten Blick
verstanden werden eben Musica Praecox (vorzeitiger Musikerguss).
Das
könnte die Akzeptanz Neuer Musik aber auch steigern. Es käme
immerhin nur auf die ersten 30 Sekunden an, die Musikpsychologie-kompatibel
komponiert werden müssten. Aber auch für den Wunsch nach Inkommensurabilität
wäre gesorgt. Es reichten wenige Sekunden, um die gewünschten
Hörer zu verschrecken (oder mit einer Pause von 25 Sekunden beginnen),
und danach könnte man ungeniert weiterkomponieren wie man es sowieso
will.
Martin Hufner
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