22. November 2024 Alles muss raus!

Bald 1000

In einem Brief eines ungenannten Rundfunkredakteurs zu meinem Artikel „Ästhetische Tauchgänge“ heißt es selbstkritisch und traurig:

Insgesamt ist ein Wandel mit dem Medium Radio passiert, der sehr schmerzlich ist. Das Radio wird seit etwa 10 Jahren seit dem geballten Auftreten der privaten Anbieter als Junk-Box genutzt. Die Musik spielt nur noch als Stimmungsrampe eine Rolle, wichtiger ist das ungefähre Gefühl, in der Gegenwart zu sein und bei Verkehr, Wetter und Weltlage im verschwommenen Bilde. Eine Identifikation mit dem Sender gibt es kaum noch, es ist mehr oder weniger Zufall, was für ein Knopf im Autoradio gedrückt ist. Auch die meisten KlassikRadio-Hörer interessieren sich gar nicht für die Musik, sondern suchen bloß Entspannung und Ablenkung von anderen Nebengeräuschen. Dass dafür Bach und Mozart herhalten müssen, ist traurig für jeden, der um den Kunstcharakter weiss.

In diesen Strudel wird zum größten Teil unverschuldet auch das ARD-Kulturradio hineingerissen. Die wichtigen Debatten finden einfach nicht mehr im Radio, sondern in der Zeitung statt. Und wer wirklich Musik oder Wort hören will, bedient sich im CD-Laden. Eine neue Rolle haben wir noch nicht gefunden. Kultur für Arme? Service für Szenegänger? Archiv für Spezialisten? Bloß, dass wir wieder mehr Hörer ansprechen und eine echte Institution werden, daran kann ich nicht glauben.

„Daran kann ich nicht glauben“, ja — dies ist das traurige Resumé des Autors. Wahrscheinlich hat er Recht. Dennoch können Initiativen wie „Das GANZE Werk“ anzeigen, in welcher Breite es doch noch Menschen gibt, die Wert auf „gutes Radio“ legen. Das sollte eigentlich den Radiomachern eher Mut machen als sie verstören. Man kann freilich auch die letzten Tümpel von Menschen mit Anspruch trockenlegen und sie desillusionieren. Aber man soll dann auch wissen, dass man sich damit endgültig unter die Gesetze einer amorphen Zahlenmasse begibt. Dann dürfte auch nicht mehr stimmen, was der anonyme Autor als „unverschuldet“ bezeichnet hat. Man macht sich mittlerweile sehr mitverschuldet überflüssig.

1970 sah Hans Magnus Enzensberger die Medien noch deutlich in einer gesellschaftlichen Verantwortung: Er nimmt den Brechtschen Gedanken wieder auf. Der Rundfunk soll die Hörer nicht auf die Rolle des passiven Konsumenten festlegen, ihn damit zugleich bevormunden, sondern die Hörer werden von Enzensberger als Individuen aufgefaßt, die das im Rundfunk Gemachte in sich weiterarbeiten lassen – Rundfunk als Mobilisierungsinstanz:

Wenn ich mobilisieren sage, so meine ich mobilisieren … das heißt … die Menschen beweglicher machen als sie sind. Frei wie Tänzer, geistesgegenwärtig wie Fußballspieler, überraschend wie Guerilleros.

So, wie es NDR Kultur momentan vorführt, kann das Resultat nur eine Art der Radioverdrossenheit sein, parallel zur vielzitierten Politikverdrossenheit. Eine Demobilisierung, ein langsames Einschläfern seines Publikums, das Fortscheuchen einer engagierten Öffentlichkeit und damit das Aufgeben der eigenen Legitimation mit Bildungs- und Kulturauftrag. Die Rechnung könnte den öffentlich-rechtlichen Rundfunk früher ereilen als er denkt. Brüssel und die private Rundfunkwirtschaft schläft nicht.

Eine Betrachtung des von Herrn Romann so genannten Kultur-Ajatollahs Martin Hufner

Update: Schon einen Tag später sind es 1062 Kultur-Ajatollahs. Herr Romann muss sich langsam Sorgen machen.

 

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