Musikpsychologische Forschung leidet bekanntlich an dem Problem, entweder vollkommen esoterischen Fragen nachzugehen oder aber Gemeinplätze durch diverse Forschungsinstrumente auf empirischen Boden zu stellen. Und natürlich ist nicht die ganze Innung von dem Verfall ins Belanglose betroffen. Als man endlich die Quinten und Oktaven als Forschungsgegenstand genügend durchleuchtete, sahen sich einige dazu in der Lage, auch mal Musik als musikalischen Gegenstand zu begreifen. Man wandte sich also der Verarbeitung von Musik zu: Die einen nannten das Kognitionspsychologie, die anderen Phänomenologie der Musik. Aber irgendwie geriet auch hier das phänomenologische "hin zu den Dingen" Husserls zur plumpen Verdinglichung zumeist doch geistiger Schöpfungen. Gut, nun wissen wir, warum der "passus duriusculus" ein harter Gang ist. Aber wie die Relation zwischen Musik und Hörer im alltäglichen Lebens sich darstellt, dieser Frage stellte man sich nur sehr ungern. Hier setzt eine Publikation des Bremer Musikwissenschaftlers Günter Kleinen ausdrücklich an.
Günter Kleinen hat den größten Teil der gegenwärtigen musikpsychologischen Forschung aufgearbeitet und referiert diesen knapp und genau. Nebenbei: Allein der Umstand, daß Kleinen die vielen im Original englischsprachigen Texte in einer deutschsprachigen Übersetzung zitiert, ist dem Verstehen des Buches sehr bekömmlich. Das wäre an sich schon ein Verdienst. Kleinen will aber hoch hinaus: Es geht ihm eben um die Wahrnehmung und Deutung von Musik im Alltag. Insofern das Testlabor gegenwärtig zwar auch zu einem Bestandteil der Alltags geworden ist, zählt auch dieses dazu. Das aber bleibt ein ausgesprochener Sonderfall. Daher kann sein entscheidendes Forschungsinstument auch nicht die Empirie als Black Box-Design sein. Kleinen zieht für seine Untersuchungen das zurecht in Verruf geratene Mittel der Einfühlung heran und bestimmt es neu. Nicht als Laberduselei: "Wahrnehmung setzt Einfühlung voraus, diese ist eine notwendige Bedingung des Musikhörens", schreibt Kleinen. Folglich richtet sich die Konstruktion der Meßinstrumente nach den subjektiven Reaktionen der Hörer. Und diese lassen sich notgedrungen nur über Sprache, d.h. metaphorisch operationalisieren: "Gefragt sind Einfühlungshörer" – man müßte ergänzen: mit entsprechendem Ausdrucksvermögen. Der Hörer habe damit immer recht. Dabei ist die Relation zwischen musikalischem Kunstwerk und Rezipient doch um einiges komplexer. Bei Kleinen erfährt man daher auch nicht viel über Musik, sondern nur "einiges" über ihre Wahrnehmung in den Bedingungen der Gegenwart bei ausgewählten Personen. Das soll den Verdienst der Resultate seiner Untersuchungen nicht schmälern, aber doch seinen Begriff "psychologische Wirklichkeit" deutlich relativieren.
Wer hoch hinaus will, benötigt die richtigen Mittel, damit der Flug nicht wie der des Schneiders von Ulm im Wasser endet. "Einfühlung" als Forschungsinstrument ist bei Kleinen noch zu wenig theoretisch bestimmt; die Struktur der Bedingungen für Einfühlung ist nicht eigentlich erkannt worden. Da wäre guter Rat bei Pierre Bourdieus "Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft" gar nicht teuer gewesen. Bourdieu schreibt: "Die Konfrontation mit einem Kunstwerk hat mithin nichts von jenem Spontanerlebnis an sich, das man gemeinhin so gern an ihr sehen möchte; wie auch jener Akt der Verschmelzung, die ‘Einfühlung’, einen Erkenntnisakt voraussetzt und die Anwendung eines kognitiven Vermögens, eines kulturellen Codes impliziert." Darum gibt Kleinens Buch vielleicht einen Anstoß für einen neuen Schwerpunkt musikpsychologischer Forschung, doch fehlt es ihm einfach an der Konkretion seiner Terminologie – ein Mangel an erkenntnistheoretischer Grundlagenarbeit. Das zeigt sich m.E. objektiv an der häufigen Falschschreibung von Namen: Heinrich statt Edmund Husserl, Jarett statt Jarrett, Eckehard statt Ekkehard Jost, Baudillard statt Baudrillard, Oliver statt Olivier Messiaen.