24. Dezember 2024 Alles muss raus!

Das Mielke-Syndrom in den Geisteswissenschaften [1993]


Ein Text aus dem Jahr 1993. Ich hatte den für die taz geplant. Die hat aber eine Veröffentlichung ausgeschlagen. Mielke in dem Zusammenhang zu erwähnen, war vielleicht 1993 noch halbwegs akzeptabel. Heute würde ich es nicht mehr so nennen, das Syndrom. Ärgerlich sich die Auswirkungen des Syndroms nicht weniger deshalb.


»Noch der armseligste Mensch ist fähig, die Schwächen des bedeutensten,
noch der dümmste, die Denkfehler des klügsten zu erkennen.«
Th.W.Adorno

Wie in der Rechtsordnung Zeugen gehört und Aussagen geprüft werden, um einen Tathergang zu rekonstruieren, so verhält es sich im Prinzip auch im Fall geisteswissenschaftlicher Erkenntnis. Hermeneutik, Sinnverstehen: Das Auslegen von Tatsachen oder Handlungen, oder solchen, die man dafür hält, soll sich gruppieren zu der Erkenntnis dessen, was war. Und wie Strafprozesse zum Teil vorherbestimmt sind, weil sie mit bestimmten Absichten geführt werden, so werden auch in der Wissenschaft Urteile manchmal identisch mit Vorurteilen.

Mit Vorliebe hetzt man in letzter Zeit wissenschaftliche Resultate und persönliche »Verfehlungen« aufeinander, um den Wert ersterer in Zweifel zu ziehen. Was man zu diesem Zweck heranzieht, bleibt dabei gerne im Dunkeln ­ Informanten muß man schließlich schützen. Unbefragt stehen deren Aussagen für sich, unbefragt auf ihren sachlichen Gehalt, unbefragt auf die Bedingungen ihrer Entstehung etc.

Als am 30. Januar 1993 im Berliner S­Bahnhof Westend im Rahmen einer Benjamin­Ausstellung der Musikwissenschaftler Rainer Cadenbach (Professor für Musikwissenschaft an der HdK Berlin) sich des Themas “Die Auratisierung Benjamins durch Adorno” annahm, verfehlte er das Thema gründlich. Es ging ihm in erster Linie um den Nachweis, daß der Freundschaft zwischen Walter Benjamin und Theodor W. Adorno die »Aura« des unantastbar Schönen genommen werden muß. Warum? Weil die schwebende Aura zweier Sterne der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts eine objektive Auseinandersetzung erschweren könnte. Der Kniefall der Nachwelt ist rückgängig zu machen und die Qualität der Adornoschen Werkes insgesamt in Zweifel zu ziehen.

Cadenbach schien schon ganz zu Beginn die Vorstellung, daß der »elf Jahre jügere Adorno« den alten Fuchs Benjamin zu kritisieren wagte, unerhört; vermutlich eine Sublimierung der Angst des Professors Cadenbach vor seinen eigenen und anderen Studenten und Studentinnen. Läßt sich solche Angst noch verstehen, so bekommt der »Fall Adorno« seine besondere Note durch das Zitieren des Professors aus Briefen, in denen sich andere Menschen über das Verhältnis zwischen Adorno und Benjamin äußerten. Ein Brief sollte diese These bestätigen. Über dessen Entstehung, Autorschaft und Adressat bleibt Cadenbach jede Rechenschaft schuldig. In diesem Brief wird eine Anekdote erzählt, nach der Benjamin in Gegenwart Siegfried Kracauers, Adornos und Morgensterns von einem Traum berichtet, den Adorno immerzu im der Geste des Vor­ und Besserwissenden ergänzt:

»Beim Essen fragte mich Benjamin: Haben Sie bemerkt, daß Teddy sogar meine Träume kennt, und wie er mir geholfen hat, meinen Traum zu erzählen?” ­ Ich dachte, Sie hätten ihm den Traum schon unterwegs erzählt.” ­ Keine Spur”, sagte er, nichts habe ich ihm erzählt. Er folgt mir bis in meine Träume.” Ich fand das damals sehr lustig. Nach einer Weile kam er darauf zurück und hat sagte: Hab ich Ihnen schon einmal erzählt, daß Teddy Wiesengrund mit Hilfe eines Kapitels aus einem meiner Bücher sich bei einem Professor hier in Frankfurt habilitieren ließ, bei dem ich durchgefallen bin?” Ich habe vergessen, welches Buch Benjamin in diesem Zusammenhang nannte.«  (zit. nach: Hans Puttnies / Gary Smith, Benjaminiana. Eine biographische Recherche, Giessen 1991, S.103)

Das schreibt Soma Morgenstern am 22. Januar 1973 (!) an Benjamins Freund Gershom Scholem, eine Begebenheit aufgreifend, die sich vor über vierzig Jahren ereignet haben soll. Merkwürdig ist es, daß Morgenstern einerseits so genau den Gesprächsinhalt wiederzugeben weiß, andererseits aber sich nicht erinnern kann, welches Buch Benjamin genannt habe. Bei den beiden nicht erinnerten Büchern kann es sich nur um Benjamins Schrift »Ursprung des deutschen Trauerspiels« (entworfen 1916, verfaßt 1925, erschienen 1928) und Adornos »Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen« (erschienen 1933) gehandelt haben. Den Einfluß des Trauerspielbuches auf Adorno wird man kaum bestreiten können; auch ist bekannt, daß Adorno im Rahmen eines Seminars über Schriften zur neueren Ästhetik auf Benjamins Schrift rekurrierte (vgl. Walter Benjamin, Briefe Bd.2, hg. und kommentiert von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt/M. 1978, S. 560 Anm. 7).

Benjamins Reaktion auf Adornos »Kierkegaard« war, soweit man darüber überhaupt etwas ermitteln kann, wohlwollend. Die Rezension dieses Buches beschließt Benjamin mit den Worten: »In diesem Buch liegt viel auf engem Raum. Leicht möglich, daß die späteren des Verfassers einmal aus diesem hier entspringen werden. In jedem Fall gehört es zu der Klasse jener seltenen Erstlingswerke, in denen ein beflügelter Gedanke in der Verpuppung der der Kritik erscheint.« (Vgl. Marbacher Magazin 55/1990, Walter Benjamin. Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs, bearbeitet von Rolf Tiedemann, Christoph Gödde und Henri Lonitz, Marbach am Neckar 31990, S.190.)

In einem an Adorno gerichteten Brief vom 1.12.1932 schreibt er nicht überschwenglicher: »Es gibt also doch noch etwas wie Zusammenarbeit; und Sätze, die dem einen es möglich machen für den andern einzustehen.« (Vgl. Marbacher Magazin 55/1990, Walter Benjamin. Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs, bearbeitet von Rolf Tiedemann, Christoph Gödde und Henri Lonitz, Marbach am Neckar 31990, S.189.)

Der Philologe steht vor der schwierigen Entscheidung, welcher Darstellung er den Vorzug geben will. Er muß also Textkritik üben. Entweder log Benjamin Adorno gegenüber, oder anders gesagt, die Freudnschaft zwischen beiden hatte den Makel der Unaufrichtigkeit, oder aber Morgenstern erinnert sich falsch. Tertium non datur. Über den Inhalt und die Darstellung des Traumes, der durch die direkte Rede den Ausdruck des Authentischen verströmt, kann nach der gegenwärtigen Quellenlage gar keine Aussagen machen. Die Interpretation hat abzuwägen und zu gewichten ­ und sei’s, daß man zu keinem triftigen Ergebnis kommen kann.

Der Interpret wird zum Richter. Und der Richter schwingt sich auf zum Henker. Man kann wie Cadenbach in der Art der Bespitzelung geheime Karteien führen. Soma Morgenstern schreibt seinen Bericht und weiß nicht einmal, daß sein Führungsoffizier oder Doppelnullagent Cadenbach alias Mielke eines Tages persönliche Korrespondenz zur Hand nehmen wird, um andere »Personen« in Mißkredit zu bringen. Das Problem dabei ist, daß Agent Cadenbach leider nicht auf Berichte von Benjamin selbst zurückgreifen kann oder will. Er hält sich lieber an Briefe Dritter, die Benjamin erhielt. Cadenbach zitiert, wieder ohne Namen, Datum und Absender:

»Neulich traf ich Wiesengrund und aß mit ihm und meinem Freund Clark vom hiesigen Rundfunk zu Abend. W. entwickelte bei dieser Gelegenheit, Die darf ichs ja sagen, eine in ihrem Snobismus fast shizophrene Theorie der sozialen Bedeutung der Musik im 19. Jahrhundert, etwa so, daß es sich dabei um die ‘Flucht’ vor dem ‘Warencharakter’ der ‘Banalität’ gehandelt habe, wobei ökonomische, ästhetische und psychologische Begriffe auf eine Art unter einen Hut gezwängt wurden, die mich niedrigen Einjährig­Freiwilligen des Marxismus mehr an Grock als an Rastelli gemahnten. Wenn er das in Oxford lernt, sollte er vielleicht doch lieber die Schule wechseln?« (zit. n.: Puttnies / Smith, a.a.O., S.126 f.)

Das schrieb Ernst Schoen am 13. Oktober 1935 an Benjamin. Den Gegenstand der Unterhaltung referiert Schoen offensichtlich ganz korrekt. In einem Brief vom 2. August 1935 an Benjamin hat Adorno zu ähnlichen Formulierungen gefunden: »Die Konzeption der Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert als Flucht vor der Photographie (der eine der Musik als Flucht vorm ‘Banalen’ übrigens streng korrespondiert)…« (Walter Benjamin, Briefe Bd.2, hg. und kommentiert von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt/M. 1978, S. 679.) Später heißt es in dem 1938 erschienenen Aufsatz »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«: »Wie die ernste Musik seit Mozart ihre Geschichte hat an der Flucht vor dem Banalen …« (Theodor W. Adorno, Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 41969, S.14. )

Adorno hat also nicht die Schule gewechselt, in die er nie gegangen ist. Warum also stellt sich Cadenbach nicht die Frage, ob vielleicht Schoen die verschlungenen und experimentellen Gedankengänge Adornos einfach nur nicht verstanden habe ­ und wem erginge das nicht selbst hin und wieder so.

Das ist die Aktenlage. Der Interpretenrichterhenker zieht es vor, von Dritten Urteile über Adorno einzuziehen. Unabhängig davon soll hier nicht behauptet werden, daß Adornos Gesprächsäußerungen klar wie Kloßbrühe sind und daß Adornos Charakter über alle Zweifel erhaben wäre. Wer kann schon von sich behaupten »Ich bin klein, mein Herz ist rein«. Entweder man landet also auf Allgemeinplätzen oder in wüstesten Spekulationen. Die Form von Psychologisierung und Biographismus, die Cadenbach anstrebt, ist einfach nur unsäglich und besagt zu Werk und Wirkung rein gar nichts. Ein lustiges Beispiel für derartige Texte sei hier angeführt, weil es sich gar so rührend liest:

»In diesem Buch ist sehr wenig erfunden. (…) Einige Details habe ich hinzugefügt (…). Indem wir mehr über den Menschen wissen, können wir der Musik näher kommen …«. (Karen Monson, Alban Berg. Musikalischer Rebell im kaiserlichen Wien, Frankfurt/M., Berlin 1989, S.11.)

Das Ungeheuerliche solcher »Studien« liegt nicht einmal in dem Urteil des Philologen sondern in der Weise, wie er andere Personen vor seinen Karren spannt. Es gibt anscheinend in den Geisteswissenschaften ein Ministerium für Geistessicherheit, dem alle Briefeschreiber auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Morgenstern und Schoen können nicht ahnen, daß einmal ein Mensch kommt, der deren briefliche Äußerungen ­ denen ja eine gewisse Privatheit zukommt ­ aus dem Zusammenhang reißt und sich zunutze macht. So werden philologisch doch erst zu untersuchende und hinterfragende Darstellungen als Fakten hingenommen. Morgenstern und Schoen werden zu Mittätern ohne Schuld.

Es dürfte wohl kaum eine Person geben, die sich einmal brieflich über andere Personen abweisend oder desavorierend geäußert hat. Vieles von dem, was einen irgendwann geärgert hat, schreibt man einem guten Freund, auch im ewußtsein, daß die eigene Kritik überzogen und harsch ist. Jetzt muß man vorsichtig sein, denn: Was andere über einen an wieder andere schreiben, könnte als bare Münze genommen werden oder man macht sich selber schuldig, wenn man, mal ganz privat, etwas böses über den Kollegen X, Freund Y oder sonstwen verfaßt hat. Wessen Geistes ist diese Wissenschaft, die aus der Schlafzimmerperspektive gewonnen ist, mit der Mentalität eines immer »Dabeigewesenen«, als Wanze in der Biographie. Cadenbach ist kein Mielke der Geisteswissenschaft.

Aber ein bißchen Mielke steckt wohl in vielen Wissenschaftlern. Die meisten wissen um die Schwierigkeit objektiver Erkenntnis. Manche wissen es wohl, aber vergessen es lieber ­ und sei es nur, weil Sätze dann hübscher klingen und der Blick in die Intimsphäre interessanter ist als der kritische Blick in die Bücher.

 

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