Und Adorno noch einmal. Man kann nicht sagen, dass es zwischenzeitlich besser geworden wäre. Aber doch hat man dem Ideal der Halbbildung annähernd religiöse Weihen zugedeihen lassen.
„Halbbildung hat das geheime Königreich zu dem aller gemacht. Kollektiver Narzißmus läuft darauf hinaus, daß Menschen das bis in ihre individuellen Triebkonstellationen hineinreichende Bewußtsein ihrer sozialen Ohnmacht, und zugleich das Gefühl der Schuld, weil sie das nicht sind und tun, was sie dem eigenen Begriff nach sein und tun sollten, dadurch kompensieren, daß sie, real oder bloß in der Imagination, sich zu Gliedern eines Höheren, Umfassenden machen, dem sie die Attribute alles dessen zusprechen, was ihnen selbst fehlt, und von dem sie stellvertretend etwas wie Teilhabe an jenen Qualitäten zurückempfangen.“
Band 8: Soziologische Schriften I: Theorie der Halbbildung. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 4927. (vgl. GS 8, S. 114-115).
Wenn man dann sich so in den entsprechenden Welten so umschaut, dann erscheint einem tatsächlich der andauernde Palaver vor allem deshalb so andauernd zu sein, damit es die eigene Unruhe vor sich selbt übertönt.
„Die Bildungsidee ist dazu prädestiniert, weil sie – ähnlich wie der Rassewahn – vom Individuum bloß ein Minimum verlangt, damit es die Gratifikation des kollektiven Narzißmus gewinne; es genügt schon der Besuch einer höheren Schule, gelegentlich bereits die Einbildung, aus guter Familie zu stammen. Die Attitüde, in der Halbbildung und kollektiver Narzißmus sich vereinen, ist die des Verfügens, Mitredens, als Fachmann sich Gebärdens, Dazu-Gehörens.“
Band 8: Soziologische Schriften I: Theorie der Halbbildung. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 4927. (vgl. GS 8, S. 114-115).
Genau das kommt hinzu. Es wird befeuert von den „entsprechenden“ Sprachführern ihrer Ideen. Wenn man sich in dem Zusammenhang zurückerinnert, jetzt mal so netztechnisch gesehen, was in den alten newsgroups hart gestritten wurde und was in den Öffentlichkeiten der unternehmensgeführten Arbeitsgruppen (also Facebook und Co) gerade nicht gestritten wird sondern häufig nur aufeinanderprallt, weil „man es kann“, wird man eher zur Ansicht neigen. Besser geworden ist es nicht in einer Welt in der beispielsweise sogar eine Beatrix von Stroch als Fachfrau akzeptiert ist. Aber auch in einer Welt in der trostlose Praxis sich als irgendwie medizinisch verkaufen kann.
Und es kommt zur absurden Situation, dass beispielsweise der halbgebildete Arzt von einem halbgebildeten Laien in der Sache in die Schuhe gestellt werden kann. Innerhalb weniger Bemühungen beim Durchgraben der Welt des Wissens im Netz.
Wikipedia reicht heute als „höhere Schule“ hin. Und ist wahrscheinlich sogar höhere Schule als damals. Dabei ist die Wikipedia im Kern wie jede Enzyklopädie der aktuell größte Tempel der Halbbildung.
„Weil jedoch Halbbildung gleichwohl an die traditionellen Kategorien sich klammert, die sie nicht mehr erfüllt, so weiß die neue Gestalt des Bewußtseins unbewußt von ihrer eigenen Deformation. Darum ist Halbbildung gereizt und böse; das allseitige Bescheidwissen immer zugleich auch ein Besserwissen-Wollen. Ein halbgebildetes Slogan, das einmal bessere Tage gesehen hat, ist Ressentiment; Halbbildung selber aber ist die Sphäre des Ressentiments schlechthin, dessen sie jene zeiht, welche irgend noch einen Funken von Selbstbesinnung bewahren. Unverkennbar das destruktive Potential der Halbbildung unter der Oberfläche des herrschenden Konformismus. Während sie fetischistisch die Kulturgüter als Besitz beschlagnahmt, steht sie immerzu auf dem Sprung, sie zu zerschlagen.“
Band 8: Soziologische Schriften I: Theorie der Halbbildung. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 4930. (vgl. GS 8, S. 116). Hervorhebung von mir.
Ein Problem dabei ist leider auch die audauernde Hoffnung, gegen Dummheit und Autoritarismus helfe Bildung. So viel ist daran wahr, dass Bildung nicht zum Schaden wird, wenn sie denn greift. Die Bildung jedoch, die sich nur Facetten ihrer Dichte und Tiefe erreicht, tut dies nicht. Bildungssystemarme Gesellschaften sind ja nicht unbedingt autoritärere.
Nur: Was gehört dann wirklich in einen Kanon der Bildungsidee? Oder wäre das der Begriff von Bildung, der seinem eigenen Verständnis eben entgegensteht. Ist Bildung dann nicht eher nur zu verstehen als das, was nicht im Kanon aufgeht, sondern in seiner Bewegung und seiner andauernden Kritik. Und ist es nicht genau das auch, was diesen Begriff von Bildung von dem unterscheidet, der sich im Autoritarismus beispielsweise der Faschist:innen von links, von rechts und aus der Mitte ausdrückt?