Es passiert ja irgendwie nie nicht Nichts. Und irgendwas passiert immer. Ich habe mir in den letzten Tagen aus Gründen den Verlauf der Coronavirus-Pandemie seit Anfang März noch einmal vor Augen geführt. Welche Themen standen wann im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Wann ging es um Geld, wann um Gesundheit, wann um Schließung, wann um Öffnung, wann um Schmierinfektion, wann um Tröpfchen, wann um Aerosole? Wann um Urlaub, Grenzschließung, Öffnung, Kinderbetreuung, Abitur, Fernunterrricht, Kontaktverfolgung, Flugzeuge, Klimaanlagen, Freiheit, Widerstand, FFP 2 und 3, Fussball, Olympia, Pflegeheime, Krankenhäuser, Singen, Autokinos, Freude schöner Götterfunken, Schwurbler, Autokratinnen, Nasen-Mund-Masken, Digitalisierung, Grundsicherung … ? Wiedereröffnung, Abstand, Hygiene-Konzepte, … Was für Themen alle. Und natürlich auch um Hefe und Klopapier, Homeoffice und -shooling. Garniert mit Statistiken und Erhebungen und der Promotion in den Fächern Virologie, Epidemionlogie, Soziologie, Philosophie, Polizeiwissenschaft, Arbeitsrecht, Geschichte, Krankenhaus-Hygiene, Notfallmedizin, Zukunftsforschung, Volkswirtschaftslehre, Psychiatrie, Belüftungstechnik, Statistik, …
Nur ein kleiner Ausschnitt! Ich habe das nicht systematisch verfolgt, nur anhand eines unbedeutenden Twitterstreams eines unbedeutenden Theaterintendanten. Aber beim Notieren merkt man doch in extremer Weise, mit wie vielen vielfältigen Problemen wir allesamt auf dem Planeten allein schon durch diese akute Bedrohung zu tun haben. Von den Dauerbaustellen wie Sprache, Gleichberechtigung, Naturschutz, Bildungsgerechtigkeit, Wasserversorgung, Hunger, Verfolgung und den daraus stetig bleibenden Problemen ganz abgesehen mit Not und Elend und Gewalt in Folge und Ursache.
Das schreibe ich nicht auf, weil ich das Maß der Desillusionierung steigern möchte, sondern im Gegenteil, weil es zeigt, wie gut oder schlecht man auf ungewöhnliche Situationen vorbereitet ist. Und wie wichtig es ist, die Fähigkeit zu entwickeln, dafür angemessene Reaktionsformen zu finden. Die müssen geübt werden. Die müssen gesehen und gehört werden. Das hat mit Wahrnehmung und Verarbeitung zu tun. Mit Empfindsamkeit und Empfindlichkeit. Alles Dinge, die wir über unsere Kultur und durch unsere Kunst entwickeln. Auch die Fähigkeit übrigens, sich abzuschotten und wegzusehen, wegzuhören und wegzufühlen. Keine Ärztin würde einen Schnitt führen könnten, wenn sie den Schnitt mitfühlen würde, aber sie muss ihn mitdenken und sie muss das Ziel mitdenken, dass man Operationen nicht aus sadistischen Erwägungen macht.
Im Moment haben wir hier in Kunst, Kultur und Musik ein großes Operationsfeld. Orientiert sein in sich verändernden Situationen ist jetzt kein falsches Vorgehen. Meines Erachtens hilft es, anzuerkennen, dass das Unsichere im Moment das Normale ist, das Normale aber das Unsichere. Aber wie schwer fällt das doch. Der Mensch, ein Wesen, das in Konventionen und Gewöhnlichkeiten wie Gewohnheiten einrichtet, muss sich als Balancekünstler:in bewähren – und selbst die Hilfestellungen und Hilfestellenden bewegen sich auf Kugeln der dauernden Unruhe. Aber eine Alternative gibt es im Moment dazu nicht.
Aus dem Newsletter der nmz vom 27.07.2020.