Gestern blieb es hier etwas stumm, denn eine Redaktionssitzung forderte mich heraus. Sie wurde typischerweise zu einer Ein-Tages-Klausur. Ertragreich, streitvoll, jedoch gerne konstruktiv. Da ich gestern bester böser Laune war, stellte ich wieder mal fast jedes Thema infrage. Irgendwann kam es zum Komplex EU-Kultur und Kulturaustausch. Ein heftiger Schlagabtausch zog sich dann hin und her. Als Feind institutioneller Kulturabwicklung verwies ich auf organische Bewegungen und “meinen” Begriff von Kulturaustausch, bei dem ich nicht den Tausch von Kultur als Ware im Mittelpunkt sehen möchte, sondern den – etwas sozialromantisch – der Herzen. Das mag angesichts der momentanen Entwicklungen (etwas) blauäugig sein.
Woher kommt dieses Vertrauen? Denn mindestens drei Formen eines unseligen wörtlichen Austausches von Kultur fielen mir spontan ein. Denjenigen zwischen 1933 und 1945 in Deutschland, dann den weichen und schleichenden durch den amerikanischen Globalplayer mit Hollywood und Fast-Food und schließlich die Große chinesische sogenannte Kulturrevolution. Nein, mein Erinnerung schwelgte zurück zu einem der schönsten Texte der Geschichtswissenschaft und Kulturerforschung. Braudels, Dubys und Aymards Essays über “Die Welt des Mittelmeeres.” Gleich im Vorwort öffnete mir Braudel den ganzen Schatz der Welt um das Mittelmeer.
In diesem Buch fahren Schiffe übers Meer; die Wellen nehmen ihren Gesang auf; Weinbauern an der genuesischen Reviera gehen die abendlichen Hügel hinab; in der Provence und in Griechenland werden die Früchte von den Olivenbäumen geschlagen; Fischer legen ihre Netze in der stillen Lagune von Venedig oder auf den Kanälen von Dscherba aus; Schiffbauer zimmern Kähne, die gleichen heute wie gestern – Und noch einmal sind wir, wenn wir ihnen zuschauen, aus der Zeit.1Braudel, Duby, Aymard: Die Welt des Mittelmeeres – Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen, Frankfurt 1987, S. 7.
Kann man so ein wissenschaftliches Buch beginnen. Man kann, man darf, man sollte, wenn es geht. Mit einem Augenaufschlag führt Braudel in die Sinnlichkeit des Raumes ein. Bald schon hat er die erste Überraschung bereit. Mich erstaunte es jedenfalls augenblicklich. All das hätte ich wissen können, aber ich wusste es nicht.
Denn lange schon ist das Mittelmeer Schnittpunkt verschiedener Welten. Seit Jahrtausenden strömt hier alles zusammen, wirbelt die Geschichte durcheinander und bereichert sie: Menschen, Lasttiere, Wagen, Waren, Schiffe, Ideen, Religionen, Lebenspraktiken. Und Pflanzen. Man glaubt, es seien Mittelmeergewächse. Aber abgesehen vom Ölbaum, vom Wein und vom Getreide autochthonen, jedenfalls schon früh hier heimischen Pflanzen – stammen die meisten aus fernen Gegenden. Käme Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung, der im 5. Jahrhundert vor Christus gelebt hat, heute als einer der ungezählten Touristen hierher zurück, er würde eine Verblüffung nach der anderen erleben. Ich stelle ihn mir vor, schreibt Lucien Febvre, »wie er seine Reise ums östliche Mittelmeer nochmals unternimmt. Wie würde er sich wundern! Diese schimmernden Früchte in den kleinen dunkelgrünen Bäumen, Orangen, Zitronen, Mandarinen, er könnte sich nicht erinnern, sie zu seinen Lebzeiten gesehen zu haben. Wahrhaftig, sie stammen aus dem Fernen Osten, die Araber haben sie eingeführt. Und diese ganz absonderlichen, stacheligen Pflanzen, blütenbestandene Pflanzenschäfte eigentlich, die merkwürdige Namen tragen, Kaktus, Agave, Aloe, und der Feigenbaum – auch sie hat er nie zuvor zu Gesicht bekommen. Wahrhaftig, sie stammen aus Amerika. Und die großen Bäume mit hellem Blattwerk haben zwar einen griechischen Namen: Eukalyptus, aber noch nie ist ihm ein solches Gewächs begegnet. Du liebe Zeit, sie stammen aus Australien. Auch die Zypressen sind ihm unbekannt, ihre Heimat ist Persien. Das ist freilich erst das Augenscheinlichste. Welche Überraschungen erwarten ihn, wenn er auch nur eine Kleinigkeit ißt – ob Tomaten, die aus Peru, oder Auberginen, die aus Indien stammen, so wie der Nelkenpfeffer aus Guayana und der Mais aus Mexiko, und der Reis ist ein Geschenk der Araber, ganz zu schweigen von den Bohnen und der Kartoffel, auch dem Pfirsich, der ursprünglich aus chinesischem Gebirge über den Iran zu uns kam, und schließlich dem Tabak«. Dennoch ist das alles zum Kennzeichen der Landschaft des Mittelmeers geworden: »Die Riviera ohne Orangenbäume, die Toskana ohne Zypressen, eine Marktauslage ohne Paprika … wäre das für uns heute nicht völlig unbegreiflich?« (Lucien Febvre, Annales, XII, 29.) Und wenn man ein Verzeichnis der mediterranen Bevölkerungen erstellte, der Menschen, die an den Gestaden des Mittelmeers geboren wurden oder Nachkommen derer sind, die einst hier zur See fuhren oder die terrassenartigen Haine und Felder bebauten, sowie der Neuankömmlinge, die allmählich in diesen Raum eindrangen, gewönne man nicht den gleichen Eindruck, den die Vielfalt seiner Pflanzen und Früchte in uns hervorruft?2Braudel, Duby, Aymard: Die Welt des Mittelmeeres – Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen, Frankfurt 1987, S. 8 f.
Ja, das täte es wohl. Ebenso erstaunt mich immer wieder der Blick in historische Atlanten. Was da an Völkern gewandert ist, wo sich Kulturen geradezu durchdrangen, selten friedlich, doch auch das kam vor.
Wie also kommt es, dass einerseits Europa zusammenwächst (Frage: Was wächst da überhaupt zusammen?) und warum wird Kulturaustausch dabei zu einem Problem? Wo stehen sich Assimilation, Integration und Ausgrenzung immer wieder im Weg? Das sind nur Ansätze zu Fragenkomplexen in diesem Themenbereich. Daneben dann Fragen wie: Warum, rein musikkulturell, klappt dergleichen an anderen Stellen der Welt nicht?
Fussnoten:
- 1Braudel, Duby, Aymard: Die Welt des Mittelmeeres – Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen, Frankfurt 1987, S. 7.
- 2Braudel, Duby, Aymard: Die Welt des Mittelmeeres – Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen, Frankfurt 1987, S. 8 f.