Seit der erneuten Beschäftigung mit Klassikern der Soziologie und Ökonomie wird der Kreislauf, vielleicht sogar das Stilltreten der Zeit immer deutlicher. Engels Beobachtungen in England, Tocquevilles Kritik Amerikas machten das deutlich. Nun liegt Siegfried Kracauers Studie aus den 30er Jahren “Die Angestellten” auf dem Schreibtisch. Nichts scheint sich zu ändern, nichts.
“Die Angestellten müssen mittun, ob sie wollen oder nicht. Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden, färben sich Damen und Herren die Haare, die Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu erhalten. »Wie werde ich schön?« lautet der Titel eines jüngst auf den Markt geworfenen Heftes, dem die Zeitungsreklame nachsagt, daß es Mittel zeige, »durch die man für den Augenblick und für die Dauer jung und schön aussieht«. Mode und Wirtschaft arbeiten sich in die Hand. Freilich, die meisten sind nicht in der Lage, sich einen Spezialarzt aufzusuchen. Sie werden die Beute von Kurpfuschern oder begnügen sich notgedrungen mit Präparaten, die so billig wie fragwürdig sind.” 1Kracauer, Die Angestellten, Ffm 1971, S. 25 (Original 1929)
Stillstand der Funktion von Ausbeutung – doch die Gesichter ändern sich und gaukeln vor, es verändere sich etwas zum Guten oder bei Kulturkritikern (wie mir) zum Schlechten. Dabei ist das genau das auch, was Virillio einmal mit “rasendem Stillstand” auch gemeint haben könnte.
Als Kracauer einen maßgebenden Herrn einer Personalabteilung fragt, was er unter angenehm verstehe, ob pikant oder hübsch, antwortet dieser:
“»Nicht gerade hübsch. Entscheidend ist vielmehr die moralisch-rosa Hautfarbe, Sie wissen doch …«
Ich weiß. Eine moralisch-rosa Hautfarbe – diese Begriffkombination macht mit einem Schlag den Alltag transparent, der von Schaufensterdekorationen, Angestellten und illustrierten Zeitungen ausgefüllt ist.”2[a.a.O, S. 24]
Kracauer wollte mit seiner kurzen, reportageartigen Skizze des Angestellten im Berlin Ende der 20er Jahre eine Diagnose stellen, damit man sie angehen könne. Wie Engels geht es zunächst um die Kenntlichmachung dessen, was sich abspielt, nicht um die Konstruktion der Theorie ohne empirische Beobachtung. Er kritisiert ausdrücklich den Protest der, wie er sie nennt, “jungen radikalen Intelligenz”, die es sich zu einfach mache:
“Denn sie entzündet sich gewöhnlich nur an den extremen Fällen: dem Krieg, den krassen Fehlurteilen der Justiz, den Maiunruhen usw., ohne das normale Dasein in seiner unmerklichen Schrecklichkeit zu ermessen.”3[a.a.O, S. 109]
Daher ist sein Schlusssatz ganz bemerkenswert und für mich absolut desillusionierend.
“Es kommt nicht darauf an, daß die Institutionen geändert werden, es kommt darauf an, daß Menschen die Institutionen ändern.”4[a.a.O, S. 115]
Das sind Momente, wo ich fürchte, dass der Verblendungszusammenhang total geworden ist. Selbst wenn man noch in das “Dasein in seiner unmerklichen Schrecklichkeit” zu ermessen versucht, so hilft es niemandem mehr.
Man dreht sich im Kreise und merkt, es ist eigentlich nur ein Punkt, von dem man sich nicht fortbewegt hat seit Jahrhunderten. Manch eine Sache mag annehmlicher, schöner wirken, es wäre zu billig, dies leugnen zu wollen, doch die Grundverhältnisse hinter den Masken der Veränderungen sind weitgehend gleich, ja geradezu identisch bei Ungleichheit.
Fussnoten:
- 1Kracauer, Die Angestellten, Ffm 1971, S. 25 (Original 1929)
- 2[a.a.O, S. 24]
- 3[a.a.O, S. 109]
- 4[a.a.O, S. 115]