Die Schulbildung tut ihr übriges. Menschen werden dazu erzogen, keine Verantwortung zu tragen und zu empfinden. Alle Wege sind fixiert in Lehrpläne, in Lernziele.
Die Schulbildung tut ihr übriges. Menschen werden dazu erzogen, keine Verantwortung zu tragen und zu empfinden. Alle Wege sind fixiert in Lehrpläne, in Lernziele. Zuhause das gleiche Bild. Menschen werden in die Verwahrlosung gebrüllt, sofern überhaupt noch Empfindungen auftreten. Lösungen findet man in der Wirtschaft vergebens, denn sie bestimmt nicht, wie und was die Menschen fühlen — oder zu fühlen in der Lage sind.
Wirt
schaft
Absurde Situation im Duell auf n-tv zwischen Peter Glotz und Heiner Geissler. Glotz warf Geissler christlichen Sozialismus vor und der wäre so wenig gut wie der andere Sozialismus. Den Ost/West-Streit muss man nun intern austragen. Zur Disposition steht längst die „soziale Marktwirtschaft“ gegen die sog. „freie Marktwirtschaft“. Zumindest oberflächlich. Eine neue Form des Kreuzzuges hat begonnen.
Kälte
Von Adorno wird gesagt, er habe noch ein ethisches Werk schreiben wollen, welches den Titel „(Die) Kälte“ hätte tragen sollen. Daraus wurde nichts. Aber in den 60er Jahren hat er sich häufiger zu diesem Thema geäußert, besonders im Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“:
Ich sagte, jene Menschen seien in einer besonderen Weise kalt. Wohl sind ein paar Worte über Kälte überhaupt erlaubt. Wäre sie nicht ein Grundzug der Anthropologie, also der Beschaffenheit der Menschen, wie sie in unserer Gesellschaft tatsächlich sind; wären sie also nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit allen anderen geschieht außer den paar, mit denen sie eng und womöglich durch handgreifliche Interessen verbunden sind, so wäre Auschwitz nicht möglich gewesen, die Menschen hätten es dann nicht hingenommen. Die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt — und wohl seit Jahrtausenden — beruht nicht, wie seit Aristoteles ideologisch unterstellt wurde, auf Anziehung, auf Attraktion, sondern auf der Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen. Das hat im Charakter der Menschen bis in ihr Innerstes hinein sich niedergeschlagen. Was dem widerspricht, der Herdentrieb der sogenannten lonely crowd, der einsamen Menge, ist eine Reaktion darauf, ein Sich-Zusammenrotten von Erkalteten, die die eigene Kälte nicht ertragen, aber auch nicht sie ändern können. Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zuwenig geliebt, weil jeder zuwenig lieben kann. Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, daß so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können. Was man so »Mitläufertum« nennt, war primär Geschäftsinteresse: daß man seinen eigenen Vorteil vor allem anderen wahrnimmt und, um nur ja nicht sich zu gefährden, sich nicht den Mund verbrennt. Das ist ein allgemeines Gesetz des Bestehenden. Das Schweigen unter dem Terror war nur dessen Konsequenz. Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür, daß nur ganz wenige sich regten. Das wissen die Folterknechte; auch darauf machen sie stets erneut die Probe.
[Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Erziehung nach Auschwitz. Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 8539 f. (vgl. GS 10.2, S. 687 f.)]
Es fällt immer schwer, daran anzuschließen, aber in dieser Produktion von Kälte, die natürlich auch unser schönes Deutschland schwer erfasst hat, spielen zu viele Komponenten eine Rolle. Da sind die eiskalten Produktionen der Kulturindustrie, die Wärme verheißen so wie der Schnaps im Winter. Eine Illusion, man erfriert an dieser vermeintlichen Wärme. Auch Politik diente wohl noch nie als Wärmestrahler. Wie vertrauensvoll sind denn Aussagen in Masken, die ein gelobtes Land versprechen, wenn man dazu durchs Tal der Tränen muss.
Und zu allem Unterfluss hat sich noch eine Beurteilung der Dinge, in falsch verstandenen Volks- und Betriebswirtschaften, auf monokausalen Erklärungsmodellen verselbständigt. Schuld ist dies, Schuld hat das. Schuld hat zumal nur etwas, was sich berechnen lässt. „Mutter, gib’ mehr Milch — Vater, lass’ mich los.“ Adorno schrieb in den „Minima Moralia“:
Gegenüber der größeren Fülle von Gütern, die selbst dem Armen erreichbar sind, könnte der Verfall des Schenkens gleichgültig, die Betrachtung darüber sentimental scheinen. Selbst wenn es jedoch im Überfluß überflüssig wäre – und das ist Lüge, privat so gut wie gesellschaftlich, denn es gibt keinen heute, für den Phantasie nicht genau das finden könnte, was ihn durch und durch beglückt -, so blieben des Schenkens jene bedürftig, die nicht mehr schenken. Ihnen verkümmern jene unersetzlichen Fähigkeiten, die nicht in der Isolierzelle der reinen Innerlichkeit, sondern nur in Fühlung mit der Wärme der Dinge gedeihen können. Kälte ergreift alles, was sie tun, das freundliche Wort, das ungesprochen, die Rücksicht, die ungeübt bleibt. Solche Kälte schlägt endlich zurück auf jene, von denen sie ausgeht. Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken. Wer dazu durch die Logik der Konsequenz unfähig wird, macht sich zum Ding und erfriert.
[Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Umtausch nicht gestattet. Digitale Bibliothek Band 97: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1709 (vgl. GS 4, S. 47)]
Kein Wunder, dass auch die Tätigkeit des Schenkens keinen Boden mehr findet, obwohl nichts nötiger scheint als jenes. Schenken wird zu einer Tätigkeit vollkommenster Naivität herabgestuft, als realitätsfremd. Denn alles will bezahlt sein. Ach, es ist ein Jammer.
Bert Brecht hatte ein furchtbares Bild für das gefunden, was uns jetzt widerfährt. Es ist ja keine neue Erfahrung. Er schrieb 1935 das Gedicht: „Abbau des Schiffes Oskawa durch die Mannschaft“.
Bert Brecht: Abbau des Schiffes Oskawa durch die Mannschaft
Zu Beginn des Jahres 1922
Nahm ich Heuer auf dem Sechstausendtonnendampfer OSKAWA
Gebaut vier Jahre vorher für zwei Millionen Dollar
Von der United States Shipping Board. In Hamburg
Nahmen wir Fracht, Champagner und Liköre nach Rio
Da die Löhnung schlecht war
Empfanden wir das Bedürfnis, unseren Kummer
Im Alkohol zu ersäufen. So
Nahmen einige Kisten mit Champagner
Den Weg in die Mannschaftsräume. Aber auch in den
Offiziersräumen
Selbst auf der Brücke und im Kartenraum
Hörte man schon vier Tage hinter Hamburg
Das Klingen der Gläser und die Gesänge
Sorgloser Leute. – Mehrere Male
Irrte das Schiff von seinem Kurs ab. Dennoch
Erreichten wir durch allerhand günstige Umstände
Rio de Janeiro. Unser Schiffer
zählte hundert Kisten Champagner weniger
Beim Ausladen. Da er jedoch
Keine bessere Mannschaft fand in Brasilien
Musste er sich weiter mit uns behelfen. Wir luden
Über tausend Tonnen Gefrierfleisch für Hamburg.
Wenige Tage auf See, übermannte uns wieder der Kummer
Über die schlechte Löhnung, das unsichere Alter, und
Einer von uns schüttete in der Verzweiflung
Viel zuviel Öl in die Kessel, und das Feuer
Schlug aus dem Schornstein über das ganze Oberschiff, so dass
Boote, Brücke und Kartenraum abbrannten. Um nicht
zu sinken
Beteiligten wir uns an der Löschung, aber
Grübelnd über die schlechte Löhnung (ungewisse Zukunft!),
strengten wir uns
Nicht allzusehr an, um sehr viel vom Deck zu retten. Das war
Leicht wieder aufzubauen mit einigen Kosten, sie hatten
Ja genug Geld gespart an unserer Löhnung.
Allzugrosse Mühen in der Mitte des Lebens
Machen die Männer rasch alt und untüchtig zum
Lebenskampf
So brannten, weil wir unsere Kraft sparen mussten
Eines schönen Tages die Dynamos aus, die Pflege brauchen
Welche von unlustigen Leuten nicht geliefert wird. Wir
waren jetzt
Ohne Licht. Zuerst benutzten wir Öllampen
Um nicht mit andern Schiffen zusammenzustossen, aber
Ein müder Maat, entmutigt durch die Gedanken
An sein freudloses Alter, warf die Lampen, um Arbeit
zu sparen
Über Bord. Um diese Zeit, ein wenig vor Madeira
Fing das Fleisch an zu stinken im Kühlraum
Durch das Versagen der Dynamos. Unglücklicherweise
Pumpte ein zerstreuter Matrose statt des Schlagwassers
Beinahe alles Frischwasser aus. Es gab noch zum Trinken
Aber nicht mehr genug für die Kessel. Wir mussten also
Für den Dampf Salzwasser nehmen, und dadurch wiederum
Wurden die Röhren uns mit Salz verstopft. Sie zu reinigen
Kostete allerhand Zeit. Es wurde siebenmal nötig.
Dann gab es Bruch im Maschinenraum. Grinsend
Flickten wir das wieder zusammen. Die Oskawa
Schleppte sich langsam nach Madeira. Dort
War keine Gelegenheit, Reparaturen zumachen von dem
Umfang
Wie es jetzt schon nötig geworden war. Wir nahmen nur
Etwas Wasser auf, einige Lampen und ein wenig Öl für
die Lampen. Die Dynamos
Waren, scheint’s vollständig ruiniert, infolgedessen
Arbeitet das Kühlsystem nicht, und der Gestank
Des faulenden Gefrierfleischs wurde unerträglich für unsere
Angegriffenen Nerven. Der Schiffer
Ging nur noch mit einem Revolver an Bord herum – ein
Zeichen
Beleidigenden Misstrauens! Einer von uns
Über diese unwürdige Behandlung ausser sich
Liess endlich einen Schuss Dampf in die Kühlröhren, damit
das verdammte Fleisch
Wenigstens gekocht wurde. An diesem Nachmittag
Sass die ganze Mannschaft und rechnete fleissig
Was die Ladung den United States kosten würde. Noch vor
Ende der Reise
Gelang es uns, unsern Rekord sogar zu verbessern: an der
Küste von Holland
Ging das Brennöl plötzlich aus, so dass wir
Unter grossen Kosten nach Hamburg abgeschleppt werden
mussten.
Das stinkende Fleisch machte unserm Schiffer noch viel
Sorge, das Schiff
Kam auf den Knochenhof. Jedes Kind, meinten wir
Konnte so sehen, dass unsere Löhnung
Wirklich zu klein gewesen war.