22. November 2024 Alles muss raus!

Das Ganze Werk

Unter diesem Titel hat sich im Norden Deutschlands eine Initiative zur Reform der Reform der Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (hier speziell von NDR-Kultur) gebildet und aufgestellt. Sie beklagen viel an der gegenwärtigen Rundfunkpraxis. Sicher das, wie sie sich nennen, dass nämlich so gut wie keine kompletten Werke mehr gespielt werden, sondern nur sogenannte Schmankerl. Ein Satz aus diesem (Drittes Brandenburgisches Konzert, erster Satz von Johann Sebastian Bach) und ein bisserl von dem (Saltarello aus der Italienischen Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy). Ebenso erfüllen viele Wortbeiträge kaum einen Zweck außer dem, für sich selbst zu werben (Quiz, Vorschau, Nachricht oder Nachbetrachtung).

Update: Das ganze Werk – jetzt auch im Internet

Es rührt sich also doch langsam deutlich merkbarer Widerstand gegen die Programmpolitik zahlreicher Öffentlich-Rechtlicher Rundfunkanstalten. Hören Sie nun mein Sendezeichen von 1988 und lesen Sie die komplette Presseerklärung mit dem gewiss provokanten Titel »Gibt es eine „Geschmackspolizei“ im Norden Deutschlands?«: 

Gibt es eine „Geschmackspolizei“ im Norden Deutschlands?
NDR Kultur von 6 bis 19 Uhr: Beliebiger Dauermix statt freier Auswahl · Initiativkreis Das GANZE Werk gegründet

„Geschmackspolizei“, was ist das? Ein Teil des Wortschatzes des Pro­grammdirektors Hörfunk des NDR, Gernot Romann (epd-Medien 19. Februar 2003, „WELT“ 25. Juni 2004). In einem Leserbrief lobt er die „Programm-Macher“ von NDR Kul­tur, „weil sie es wagen, die Vor­schriften einer selbsternannten Geschmackspolizei zu ignorieren“. NDR Kultur will sich also durch Kritiker nichts vorschreiben lassen und weiß in Geschmacks-, ebenso in Kulturfragen schon, wo es langgeht.
In Wirklichkeit gängelt NDR Kultur von 6 bis 19 Uhr die Kenner und Liebhaber der Kultur.

Die Ankündigung der Musikstücke erfolgt nur noch kurzfristig im Inter­net unter www.ndr-kultur.de. Anson­sten erfährt der Hörer nicht, auf wel­ches Potpourri er sich einlässt. Er wird von NDR Kultur völlig bevormundet. In 12 ½ Stunden ertönt ein Mix aus knapp 95 Musiktiteln.

Im Schnitt wird alle 7 ½ Minuten ein neues Musikstück der Sparte „klassische Musik“ oder aus dem Bereich Filmmusik, Pop usw. ge­startet, wegen der vielen Wortbeiträge ist seine Dauer kürzer. Was kann das dann schon sein? Eine Ouvertüre oder ein Satz, ein Ausschnitt aus einer längeren Komposition. Vielleicht gibt es an einem Tag 2 bis 3 vollständige Kompositionen, dann aus der Zeit vor 1770, weil sie nicht so lang sind. Die „stilsichere“ Rei­henfolge, so Wellenchefin Mirow, mag ein geheimes Geschmacksrezept von NDR Kultur sein, für Musik­freunde ist es ein beliebiges und unerträgliches Durcheinander. Der Hörer soll das „konsumieren“ (Romann), was NDR Kultur mit unterschiedlicher Gewichtung in einen großen Topf geworfen hat und dann pro Sendung computer­gestützt herausfischt.

Vom 17. Mai bis zum 26. Juli hat NDR Kultur nach den eigenen Veröf­fentlichungen 15 mal den 1. Satz des 3. Brandenburgischen Konzertes von Johann Sebastian Bach und 10 mal den Satz „Saltarello“ der „Italienischen Sinfonie“ oder den „Kriegsmarsch der Priester“ aus Athalia von Mendelssohn gespielt. Die Liste der häufig wiederkehrenden Stücke lässt sich mit etwas Fleiß präzise fortsetzen. Ein Einzelstück, das einmal er­wählt wurde, weil es ein „Highlight“ oder vielleicht schmissig oder schmu­sig ist, kommt in bestimmten Abständen, gleich interpretiert, wieder. Um­gekehrt wird sonst trotz der Menge an gesendeten Einzelstücken vieles ausgeschlossen oder selten serviert: langsame Sätze, Kammermusik, Kompositionen vor 1700 und nach 1900. Zum Beispiel Telemann: in dem untersuchten Zeitraum wurden 33 mal Konzert-Einzelsätze gespielt (einige Sätze mehrfach), nur schnelle Sätze, kein einziger langsamer Satz – an Kammermusik wurde in den 10 Wochen ein einziger Triosatz gespielt, berühmte Werke wie die „Pariser Quartette“ konnte man nicht kennenlernen.

Nach § 11 des Rundfunkstaatsvertrages hat NDR Kultur einen Kultur­auftrag und muss Repertoirevielfalt bieten. Mit welchem Recht wird statt­dessen dem Hörer in der Haupt­radiozeit so vieles vorenthalten und der Kulturauftrag verletzt?

Die Moderation wird zunehmend von kritischen Hörern als oberflächlich empfunden. Nach Frau Mirow ist eben „der unprätentiöse Stil (…) gewollt“ (prätentiös = anspruchsvoll).

NDR Kultur ist stolz auf die aktuelle Kultur-Berichterstattung. Die Bei­träge sind jedoch auf 2 ½ Minuten komprimiert. Die Inhalte stehen oft in keinem Zusammenhang mit der Mu­sik und wiederholen sich häufiger. Verfolgt man die Inhalte über länge­re Zeit, stellt man ein ausgedehntes verbales Netz der NDR-Eigenwerbung fest: ein großer Teil behandelt als Ankündigung, Quiz, Vorschau, Nachricht oder Nachbetrachtung Sendungen oder Veranstaltungen von und mit NDR Kultur. Der Hörer gewinnt den Eindruck, die Hälfte der Kultur im Norden Deutschlands laufe über NDR Kultur.
Die Wortbeiträge von NDR Kultur in der Hauptradiozeit offenbaren eine große Lücke in der Weiterbildung seiner Hörer. Warum wird auch der Bildungsauftrag verletzt?

Wenn man den Stil des privaten, nicht öffentlich-rechtlichen Senders Klassik Radio kopiert, mag man ihm Hörer abjagen, wozu dann aber noch einen gebührenfinanzierten Sender?

NDR Kultur hat reichlich Medienpartner. Diese haben Vorteile und erhalten auf Umwegen Gelder aus dem Gebührenaufkommen. Neben den Verflechtungen zwischen NDR und Schleswig-Holstein Musik Festival, die Joachim Mischke am 19. Juli 2004 im „Hamburger Abendblatt“ dokumentiert hat, erlangt NDR Kultur damit in einem großen Sendegebiet einen Einfluss, den man in der freien Wirtschaft als marktbeherrschend charakterisieren würde.

Medienpartner sind systematisch zum Schweigen verurteilt, wenn es um eine Stellungnahme zu NDR Kultur geht. Viele Menschen teilen dort unsere Kritik an NDR Kultur. Wir haben es schon oft erfahren, dürfen es aber nicht benennen.

Gibt es eine „Geschmackspolizei“ im Norden Deutschlands?

Am 15. Juni 2004 wurde mit Unterstützung der Hamburger Telemann-Gesellschaft der Initiativkreis Das GANZE Werk gegründet. Er setzt sich dafür ein, dass von 6 bis 19 Uhr in einer Dauer von mindestens 4 Stunden ganze Wer­ke gesendet werden. Er ist unter tact.htg@t-online zu erreichen.

Am 8. September 2004 findet zu dem Thema eine Veranstaltung im Leibnizsaal der Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis in Hannover, Rote Reihe 8 statt.

Hamburg, 26. Juli 2004
Initiativkreis Das GANZE Werk
gez. Theodor Clostermann

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Ein Kommentar

  1. Ich kann dazu nur bemerken,

    Ich kann dazu nur bemerken, daß ich seit wenigen Monaten Satellitenempfang habe und mich als ehemaliger NDR3 Stammhörer zunehmend dabei ertappe doch zu HR Klassik zu wechseln, wo es auch feste Programmplätze wie Orgelmusik am Sonntag von 9:00-9:30 etc gibt. In Ihrem Beitrag erwähnt, vermisse ich auch eine Programmvorschau bei Radio Kultur, wo die Sendezeiten und auch die Titel zu finden sind.-

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