„Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen.“
Die zwei Richtungen. — Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir endlich nichts als Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt wieder auf nichts als auf den Spiegel. — Dies ist die allgemeinste Geschichte der Erkenntnis.
[Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Viertes Buch. Friedrich Nietzsche: Werke, S. 5649 (vgl. Nietzsche-W Bd. 1, S. 1172) (c) C. Hanser Verlag, http://www.digitale-bibliothek.de/band31.htm ]
Manchmal kann es schon recht trostlos sein. Manchmal scheint sich nichts zu bewegen. Und bewegt sich doch etwas, dann nicht so, wie man es gerne hätte. Es gibt so wenig zu erfassen. Das meiste bleibt doch nur ein Schein der Dinge, die man nur sieht, weil es sie nicht wirklich gibt — und dabei übersieht man die Dinge, die es dann doch gibt, die aber aus dem Betrachtungsrahmen herausfallen.
Da mag der Tod eines nahen Verwandten so viel Schmerz erzeugen, der aber doch wieder dann nur ein eigener ist. Ein Schmerz, der manchmal eher erscheint, als sei er aus reinem Eigenutz geboren. Die Trauer um das Verlorene, ja, aber von etwas, das einem nicht gehört. Und doch eigen ist.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht. In ein anderes, besseres Reich geht man ein oder in keines. Ersteres ist tröstlicher, letzteres nur egal.
Woraus sich die Kraft speist, dann doch weiterzumachen? Wenn ich den Staub auf meinem Schreibtisch sehe, dann fällt mir die Antwort schwer. Wenn ich dagegen immer häufiger vor Rührung aus der Ruhe falle, dann ist es anders. Dann greift man doch durch den Spiegel hindurch und die Dinge werden lebendig.
Es gehört wohl zu den merkwürdigen Paradoxien, festzustellen, dass einam nicht fehlt, wenn man einige Tage am politischen Tagesgeschehen nicht rezeptiv teilnehmen kann, also Radio und Fernsehen sowie Zeitungen still bleiben (das Internet ist eine reine Nebenwelt), und einem dadurch nichts fehlt. Und umgekehrt man feststellen muss, dass dieser Zustand auch zu einer fatalen Passivität führt, die solange erträglich scheint, wie man von den Aktiva nicht geschüttelt wird. Dann ist des Jammers wieder kein Ende und die Ohnmacht macht sich breit, dass zu ändern sowieso nicht ist. Alles Wirken, alles Tun, jedes Machen wird zu einer reinen freudlosen Sache, die nur in sich selber kreist.
Und doch, immer wieder, wer weiß warum, entzünden sich Funken, die einen herausreißen. Ein Stück Musik meinetwegen. Das Sinnloseste vielleicht überhaupt: Musik. Gerade dies.
Mein linkes Ohr bleibt wohl geschädigt. Ein Bekannter sagte mir einmal. Wenn man blind sei, entferne dies einen von den Dingen. Ist man taub, dann entferne es einen von den Menschen.
So eine Taubheit gibt es auch gegenüber der Geschichte und sei es die eigene. Eine Taubheit auch gegen einen selbst, eine Selbstvertaubung. Hervorgerufen vielleicht von Überdruß, vielleicht durch Ignoranz, vielleicht durch Faulheit und vielleicht auch genau durch ihr Gegenteil.
Und dann bleibt wenig mehr, als zu wollen, den Sonnenaufgang zu hören. Noch. Jetzt steht einstweilen der Mond hoch über dem südwestlichen Horizont, er sucht die Nähe des Mars.
Jacopo de’ Barbari: Mars und Venus
um 14801514, Kupferstich, 29,7 × 18 cm
Wien, Graphische Sammlung Albertina