Mir hat heute der Erinnerungsmodus von Facebook ein Foto angezeigt, das ein Gedicht von Bert Brecht aus einem Kinderbuch in einer Gästeunterkunft abbildete.
Kunst und Dialektik der Freiheit
Das ist ein geradezu perfektes Beispiel für dialektische Logik. Die Freiheit der künstlerischen Arbeit durch deinen Gesang hat zur Folge, dass du wegen deiner Fähigkeit als Lustobjekt deiner Gesellschaft gehalten wirst. Um frei zu sein, müsstest du dich einer Kunst rühmen, die niemanden dazu veranlasst, dich im Käfig zu halten. Das aber kann der Kanari nicht so recht wahrnehmen, da er ja in seiner Überheblichkeit für sich reklamiert, dass der Beobachter, der Rabe nämlich, keine Ahnung von Kunst habe.
Es ist aber nicht der Rabe, der den Kanari einsperrt, um sich an dessen Kunst zu freuen, sondern jemand, der in dem Gedicht gar nicht auftaucht: das Wesen, das den Kanarienvogel im Käfig hält. Der Vogel macht seine Kunst nicht für seine Vogelwelt, die auch gar nicht die Macht hat, andere im Käfig zu halten, sondern für andere Lebewesen, die sich auf die Beherrschung von anderen Lebewesen verstehen. Kunst für diejenigen, die die Kunstschaffenden dann einsperren zu ihrem Vergnügen.
Hier ist es die Kunst des Singens. Es könnte aber auch eine andere Fähigkeit sein, wie eine schwere Plackerei. Mit dem Unterschied, dass sich der so Geplagte vermutlich nicht seiner ungeheuren Kraft als Mittel der Überheblichkeit rühmen würde und anderen gegenüber herablassend verhielte.
Mit der Kunstfähigkeit in unserer menschlichen Gesellschaft ist ein wenig ähnlich. Nicht immer, aber doch nicht selten rühmt der Künstlernde sich seiner Kunst im Gegensatz zur profanen Lebenswelt seiner Umgebung, die Peergroup dient da als Kunstverstärker. Gleichzeitig widersetzt man sich seiner Käfighaltung häufig, obgleich sie manifest ist dadurch, dass es gelegentlich milde Gaben aus der Politik in Form von Unterstützungsleistungen gibt. Das führt zu gewissen Abhängigkeiten zwischen Politik und Kunst. Aber andersherum sind diejenigen, die darauf verzichten können in einer Abhängigkeit ihres Publikums, das sie auf verschiedene Weise finanziert. Kunst ist auf diese oder jene Weise Gefangene der Gesellschaft, in der sie gedeiht – oder eben nicht.
Es wäre eine Frage: Singt der Kanarienvogel, was seine Umgebung hören will oder singt der Vogel, was er singen will? Denn auch in der Gefangenschaft gibt es unterschiedliche Formen der Lebensführung.
Es ist natürlich immer ein Ping und ein Pong zwischen Mensch und Gesellschaft, zwischen Kunst und Gesellschaft. Wichtig ist es, dass es dabei zu keinen Selbstverständlichkeiten kommt, sondern die Reflexion nie abgeschlossen sein darf.
Was ich eigenartig an dem Gedicht von Brecht finde, ist hier die Illustration, auf die ich mir keinen Reim machen kann.
Lüge als Kälteschutzmittel
„Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid. Gelogen wird nur, um dem andern zu verstehen zu geben, daß einem nichts an ihm liegt, daß man seiner nicht bedarf, daß einem gleichgültig ist, was er über einen denkt. Die Lüge, einmal ein liberales Mittel der Kommunikation, ist heute zu einer der Techniken der Unverschämtheit geworden, mit deren Hilfe jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann.“1Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Vor allem eins, mein Kind. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1678, (vgl. GS 4, S. 32)
Selfie
Fussnoten:
- 1Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Vor allem eins, mein Kind. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1678, (vgl. GS 4, S. 32)