Sehr schwer hat es die Neue Musik eigentlich wirklich nicht. Die Szene brummt. Es gibt Komponistinnen und Komponisten wie Kiesel am Meer. Ebenso gibt es Studiengänge, Festivals, Konzerte, Förderinstitutionen, Redaktionen in fast jeder Rundfunkanstalt öffentlichen Rechts etc. pp. Diese Musik ist präsent wie nie. Es wäre mal interessant, nachzumessen, wie sich das entwickelt hat, nämlich seit den 80er-Jahren, als ein zweibändiges Werk dazu im ConBrio-Verlag für diese Zeit erschienen ist (1994).
Sehr schwer hat es die Neue Musik eigentlich wirklich nicht. Aber die Musikerinnen und Musiker, die diese Musik realisieren sollen. In der nmz gibt es in jeder Ausgabe eine Übersicht mit Neuen Partituren, die aktuell Stefan Drees betreut. Er untersucht dabei zu einem Thema, einer Besetzung etc. ein paar aktuelle Partituren, beschreibt die Machart, welche Anforderungen damit verbunden sind und wer diese Sachen verlegt, wie die Komponierenden und die Werke heißen …
Das sieht dann aktuell in der Mai-Ausgabe für die Besetzung Streichquartett so aus:
So verschieden die Dauern oder die Ausdrucksweisen auch sind: Alle diese fünf Werke werden als „sehr schwer“ eingestuft. Das ist kein feststehender Textbaustein. Natürlich ist letztlich jede Musik sehr schwer zu spielen, aber hier sind es eben auch technische Anforderungen, die primär gemeint sind. Die reichen von der Lesbarkeit des Notentextes bis zu besonderen Spieltechniken. Dieses „sehr schwer“ ist in der Neuen Musik gewissermaßen so etwas wie das „summa cum laude“ im Bereich der Dissertationen.
Was ist schon sehr schwer?
Und es steht meines Erachtens einer weiteren Verbreitung und Durchdringung dieser Musik in der Öffentlichkeit ziemlich im Wege. Es gibt ja eine Komposition von La Monte Young, an die ich mich erinnere, die darin besteht, den Deckel über der Tastatur des Klavieres zu schließen, ohne dass dabei ein Geräusch entsteht. Das Stück sei dann beendet, wenn dies gelungen sei, oder wenn man es schließlich aufgibt. Theoretisch ist dieses Stück auch sehr schwer, weil das erfolgreiche Ergebnis quasi ja nie eintreten wird. Aber es ist auch umgekehrt sehr leicht, weil die Anweisung von jedem oder jeder einfach zu verstehen ist und die Durchführung des Stückes herausfordernd einfach und kompliziert ist.
Das ist bei den Kompositionen für Streichquartett so nicht der Fall. Deren Realisierung ist Ensembles vorbehalten, die dafür Zeit und Genuss genug haben. Nehmen wir mal das Stück „Distant Voices“ von Toshio Hosokawa, das in der Übersicht erwähnt wird (hier ein Preview der Partitur). Es stammt aus dem Jahr 2013. Der Schott Verlag hat es verlegt. Und dankenswerterweise gibt es auch eine Übersicht mit den Aufführungen, die das Stück erfahren hat. Nachdem es 2013 zahlreiche nationale Erstaufführungen gab, dünnt es aus:
- 2013 = 4
- 2014 = 4
- 2015 = 0
- 2016 = 4
- ab 2017 = 0
Leider erfährt man bis aus die letzte gelistete Aufführung nicht, wie viele verschiedene Ensembles das Stück zu Gehör gebracht haben. Wahrscheinlich sind die ersten Aufführungen aber allesamt mit dem Quatuor Diotima gemacht worden. So kommt es auch zu den nationalen Erstaufführungen, die an den Orten stattfinden, an denen auch die Auftraggeber residieren (Alois Lageder/VIN-o-TON, Kunstfest Weimar, Printemps des Arts de Monte-Carlo and Wigmore Hall). Die Aufführung im Hamburger Resonanzraum war auch mit dem Quatuor Diotima.
Sehr schwer ist ja einfach – Einfach ist sehr schwer
Hören Sie nun ein anderes Stück aus der oben erwähnten Liste. Clara Iannottas „You crawl over seas of granite“.
Hier sieht es, was die Anzahl der spielenden Ensembles angeht, etwas besser aus. Es kommt aus dem Jahr 2020, wo es vom Jack Quartet bei Festival Ultraschall in Berlin uraufgeführt worden ist. Seit 2023 gibt es Aufführungen vom Ensemble Resonanz, dem Quartetto Maurice und dem Mivos Quartet.
Bei Iannotta hat es sich gelohnt, das Ergebnis klingt sehr simpel. Dieses Ergebnis zu erzielen, ist leider nicht immer einfach. Sondern manchmal sehr schwer. (Schade, kein Preview der Partitur …)
Man stelle sich vor, Bücher zu lesen wäre ähnlich technisch schwer wie das lesen und spielen von Musik, wie sie oben erwähnt wurde. …
Neue Musik ist sehr schwer, weil junge Komponisten aller Geschlechter von Wettbewerben und kuratierten Aufträgen leben. Ein zu simples, gar in Takten notiertes oder – Gott behüte – nur atonales Stück fliegt schon in der Vorrunde raus.Nur Partituren, die die Jurymitglieder sich klingend nicht vorstellen können und die überkomplex aussehen, haben eine Chance. Und das setzt sich nach unten fort bis “Jugend komponiert”. Das kleine Klavierstückchen eines 11jährigen in D-Moll wird niemals (!) eine Chance auf einen vorderen Platz haben. Die Elite reproduziert sich selbst…