Es sollte das große Ding sein, das Claudia Roth als Kulturstaatsministerin an den Start bringt. Aber es ist eine Initiative, die an fast jeder Stelle scheitert. Der Kulturpass für 18-Jährige ist gestern gestartet. Eine erste Fehleranalyse.
Das Bild, welches man auf der Website dafür gewählt hat, drückt absolute und totale Coolness aus. Denn „Zwei Jahre lang konnten junge Menschen während der Pandemie keine Live-Kultur erleben“, also die damals 16- oder 15-Jährigen. Das ist ein Loch der kompletten Unterversorgung gewesen, entsprechend deprimiert ist dieser Teil der jungen Generation. Aber junge Menschen sind nur ein Teil der Geschichte des Kulturpasses. Auf der anderen Seite litten auch die Kulturveranstalter:innen, denen man diese jungen Menschen in der Funktion von Transmissionriemen nun zuleiten will.
Wo man sich dabei verrechnet und wo Idee und Umsetzung nicht nur in Teilen, sondern systemweit danebenliegen, möchte dieser Artikel aufzeigen. Zur Idee habe ich mich schon an anderer Stelle geäußert. Hier geht es jetzt um die Umsetzung, um das konkrete aktuelle Angebot. Andere Probleme wie der hohe bürokratische Aufwand, hat der NDR mal recherchiert.
„Der KulturPass soll nicht nur junge Menschen, sondern auch die Kultureinrichtungen unterstützen. Sie wurden ebenfalls hart von Corona getroffen und kämpfen noch immer darum, ihr Publikum zurückzugewinnen. Ziel ist es, durch den KulturPass die Nachfrage in den Einrichtungen zu stärken und ihnen zu ermöglichen, neues Publikum für sich zu gewinnen. 5.600 Kulturanbieter bundesweit sind bereits registriert, rund 1,7 Millionen Produkte sind derzeit verfügbar (Stand: 14.06.2023).“ https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/kulturpass-2142398
Aber schon die Grunddaten stimmen nicht. Wenn man die App des Kulturpasses öffnet, dann hat man nicht einen Zugriff auf rund 1,7 Millionen Produkte, sondern auf heute früh exakt 1.220.190. Aber auch das ausgegebene Ziel (Nachfrage in Einrichtungen steigern) verfehlt man aktuell komplett – die Zahl ist reine Augenwischerei. Der größte Teil der Angebote (bzw. Produkte) besteht aus Büchern, nämlich 1.162.505 von 1.229.190. Das sind 95,3 Prozent. Umgekehrt heißt das: 4,7 Prozent aller Produkte entfallen den Bereich Konzert und Bühne, Kino und Museum & Parks – also die Kultureinrichtungen, die darum kämpfen, „ihr Publikum zurückzugewinnen“. Der Rest (Musikinstrumente, Noten und Tonträger) fällt in den Rundungsbereich von etwa 0,01 Prozent der Produkte. Hier eine genaue Auflistung.
Die Kultur-„Produkte“
Die Anzahl der angebotenen „Produkte“ im Detail am 14.6. (nachmittags) und in Klammern am 15.6. (vor 9 Uhr).
- Bücher: 1.162.441 (1.162.505) Ergebnisse
- Konzerte und Bühne: 55.299 (56.671) Ergebnisse
- Kino: 763 (787) Ergebnisse
- Musikinstrumente: 92 (113) Ergebnisse
- Museen & Parks: 73 (77) Ergebnisse
- Noten: 10 (10) Ergebnisse
- Tonträger: 3 (3) Ergebnisse
Die Aussage:
„Mit der App bieten wir einen Tourguide für die spannende und sehr vielfältige Kulturlandschaft Deutschlands an“, so Kulturstaatsministerin Roth beim Pressetermin am 14. Juni 2023 im Kanzleramt.
wirkt absurd. Danach müssten Bücher die Kulturlandschaft fast komplett abbilden. Wie sieht es in den Kategorien von Konzert und Bühnen aus:
Die „Produkte“ in der Kategorie: Konzerte und Bühne
- Comedy: 53
- Festivals: 181
- Festspiele: 48
- Klassik: 26
- Konzerte: 412
- Literatur & Spoken Word: 74
- Musical & Show: 258
- Oper & Operette: 5
- Tanz: 17
- Theater: 135
- Wert-Code: 55461
- Zirkus: 1
Man kann sich über diese Kategorisierung so einige Gedanken machen, zum Beispiel wie man Konzerte und Klassik auftrennt und was es mit dem Wert-Code so auf sich hat. Aber man kann es auch lassen.
Gewinner im Bereich Veranstaltungen ist der Ticketvermittler Eventim. Über den werden gefühlt fast alle Tickets vermittelt. Wenn meine Rechnung stimmt, Stand 15:xx Uhr am 14.6.2023 gab es insgesamt 57.100 Einträge unter Konzerte und Bühne, bei Suche nach dem String „Eventim“ waren es noch 55.376 Veranstaltungen. Also nicht ganz 100, sondern nur 96,9% Prozent aller Einträge.
Und er wird seine Provision ganz sicher kassieren. Absurderweise ist der Gesamtpreis aktuell für Veranstaltungen mit Eventim wohl immer mit 150 Euro angegeben.
Es gibt aber auch eventimfreie Zonen.
Oper und Operette: Gärtnerplatztheater München mit Figaros Hochzeit und Luisa Miller für 10 Euro und drei mal die Fledermaus von Opera Laiblin e.V. zu 14 Euro.
Im Bereich Klassik gibts Konzerte der Elbland Philharmonie zu fast immer 5 Euro oder KonzertGut (Braunschweig) zu 15 Euro. Mit von der Partie ist das Kulturreferat Cham das Kulturbüro der Stadt Hamm, Das Zentrum Bayreuth, das Ensemble Haar und die Vogtland Kultur GmbH oder die Bingen Tourismus und Kongress GmbH. Sämtliche Einträge in der Kategorie Festspiele werden veranstaltet vom Tourismus- und Veranstaltungsbetrieb der Lucas-Cranach-Stadt Kronach. Aber immerhin ist man in diesen beiden Bereichen wenigstens frei von Eventim als Anbieter oder Vermittler
Im Bereich Noten und Musikinstrumente tummeln sich nur wenige Anbieter, die den Kulturpass für sich entdeckt haben.
Immerhin habe einige Anbieter entdeckt, dass die Produkte selbst vielleicht gar nicht so attraktiv sind, aber man mit Wertecodes recht gut arbeiten kann, weil man so die Möglichkeit bekommt, Preise von deutlich teureren Produkten zu reduzieren. Vor allem ist es fast nur auf diese Weise möglich, die 200 Euro Budget auch komplett und restlos einzusetzen. Versuchen Sie beispielsweise mal, einen Korb von interessanten Büchern zusammenzustellen, die dann exakt 200 Euro kosten.
Filterfunktion Relevanz
Wenn man möchte und zahlreiche Ergebnisse bei der Suche ausgespuckt werden, kann man sich die Ergebnisse nach „Relevanz“ sortieren lassen. Wie dieser Filter funktioniert und ob überhaupt, ist für die Nutzer:innen leider nicht ersichtlich.
Reaktionen aus der Kulturlobby – zahm
Komischerweise begrüßen dennoch wichtige Kulturlobbyisten den Kulturpass. So sagt der Deutsche Kulturrat in seinem Newsletter:
„Der KulturPass für 18-Jährige in Deutschland ist eine sehr gute Idee. Er ist die Chance, gerade auch Kultur fernerstehenden Jugendlichen den Einstieg in die kulturelle Welt zu erleichtern. Dafür ist es aber wichtig, dass der KulturPass in kulturelle Bildungsmaßnahmen eingebunden wird, um mehr kulturelle Teilhabe zu erreichen. Der von der Bundesregierung vorgesehene Etat von 100 Millionen Euro für den KulturPass 2023 ist knapp bemessen, um allen 750.000 Geburtstagskindern ein 200-Euro-Kulturguthaben bereitstellen zu können. Nichtsdestotrotz ist mit dem Pilotprojekt ein richtiger und wichtiger Anfang gemacht. Der Deutsche Kulturrat begrüßt den morgigen Start des KulturPasses ausdrücklich.“
Newsletter des Deutschen Kulturrats vom12.6.2023.
Knapp bemessen ist gut. Man hat sowieso mit Schwund von Anfang an gerechnet. Denn der dafür vorgesehene Etat von 100 Millionen Euro (abzüglich der Aufwendungen für Technik und Organisation) würde für die potentiellen Nutzer:innen mit etwa 750.000 Personen, die ihr 200 Euro Buget innerhalb von zwei Jahren einsetzen dürfen, nicht reichen. Dafür hätten es netto 150 Millionen Euro sein müssen. Das Scheitern wirkt damit als Eingeständnis, dass man sowieso ein drittel der Berechtigten verloren gibt. Gerade um die würde es aber gehen. Nicht um die sowieso schon Kulturaffinen.
Auch die Musikwirtschaft freut sich:
„Die Musikwirtschaft freut sich über die Einführung des KulturPasses für 18-Jährige in Deutschland und ist zuversichtlich, dass zahlreichen jungen Erwachsenen der Zugang zu Kultur und Musik so noch besser ermöglicht wird. … Wenn über diese Angebote dann tausende 18-Jährige auf die Konzerte oder in die Platten- und Musikinstrumentenläden strömen, bieten sich große Chancen im Sinne eines nachhaltigen Audience Developments.“
Pressemailing: Forum Musikwirtschaft begrüßt KulturPass
Ich habe das Bild direkt vor Augen, wie Tausende in die Plattenläden rennen um die drei Tonträger dann online zu erwerben. Hier die Tipps zum „nachhaltigen Audience Development“ im Bereich Tonträger:
Die Gewinner des Kulturpasses
Neben Eventim scheint es besonders im Bereich Bücher Gewinner zu geben. Wenn ich das richtig sehe, gibt es zur Zeit nur ganz fünf (in Zahlen 5) Anbieter, die sich den größten Produktkuchen teilen.
Dafür gibt es aber natürlich auch Bücher aus dem Antaios Verlag, damit dann auch wirklich alle Seiten unserer reichhaltigen Kultur repräsentiert werden können. Schließlich hat auch die rechte Szene unter Corona schlimm darben müssen. Und natürlich gibt es auch 18-Jährige, die sich dafür besonders interessieren und engagieren. Der Kulturpass hilft dabei.
Misserfolg-Erfolg
Man könnte auch sagen, dass sich der Erfolg, den die falsche Zahl von 1,7 Millionen Produkten als Achillesferse entpuppt. Dass man nämlich nichts findet, was wirklich interessant wäre. Beim ersten Einloggen wurde gefragt, ob man seinen Standort tracken lassen möchte. Dann wäre es möglich, Veranstaltungen in der Nähe sich anzeigen zu lassen. Entweder ist die Funktion einmalig festgelegt oder deaktiviert worden. (Ich meine mich zu erinnern, dass Köln für Kleinmachnow gerade um die Ecke liegen würde und zwar eben nicht Neukölln.) Flop: die Ankündigung, man könne eben auch Vinyl finden, ist aktuell ein kompletter Fehlschlag. Aber man findet ein Buch mit dem Titel „Vinyl“ – natürlich vorzugsweise im Kemptener Fachsortiment.
Die Frage für kleinere Veranstalter ohne Eventim im Hintergrund oder eine städtische Behörde: Lohnt sich der Aufwand für Registrierung und Datenpflege überhaupt, wenn man untergeht im großen Haufen finanziell hochpotenter Konkurrenz? Das muss natürlich jeder für sich entscheiden. Ich fürchte, es hängt von der Umgebung ab. Eine Veranstaltung in der Kategorie Zirkus ist dann tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal und ist damit gut wahrnehmbar.