Theater auf! Dann Krankenhäuser auf! Es gibt noch genug Beatmungsstationen, genug Reha-Plätze, genug Platz unter der Erde. Wir fordern die Intensivmediziner:innen und -pfleger:innen auf, Platz für Kunst und Kultur zu schaffen. Da geht noch mehr, mit Applaus kennen wir uns aus.
„20 renommierte Experten und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen haben ein gemeinsames modulares Konzept mit Blick auf eine kontrollierte Rückkehr von Zuschauern und Gästen zu Veranstaltungen entwickelt“.
Sobald man besonders zu betonen müssen meint, dass die Expert:innen und Wissenschaftler:innen renommiert sind, ist in Zeiten der Pandemie Vorsicht angesagt. Wenn dann deren Informationen über private Fernsehsender in die Öffentlichkeit gelangen und es scheinbar nicht möglich war, dazu auch kulturpolitische Fachpresse einzuladen, wird es nicht besser.
In diesem Fall ging es um das berechtigtes Ansinnen von Veranstaltern aus Kultur und Sport, Publikum wieder unter der Maßgabe von gescheiten Hygienekonzepten als Besucher:innen zu ermöglichen. Das ist verständlich. Das Papier und die Meldung nennt sich: „Leitfaden zur schrittweisen Rückkehr von Zuschauern und Gästen“ – die Unterlagen finden man beim Bühnenverein.
Wie sicher ist sicher
Wenn man sich derlei Vorschläge durchliest, wären regelmäßig bis zu manchmal 100 Prozent Auslastung mit Publikum möglich. Im Prinzip ist alles sogar sehr einfach: Man muss nur zu verhindern wissen, dass sich – in diesem Fall – die SARSCoV2-Viren verbreiten. Das geht zum Beispiel dann, wenn überhaupt niemand Träger dieser Viren ist und sie verbreiten kann. Ist dem so, können sich so viele Menschen treffen wie sie wollen, auch 200 Prozent. Das war vor etwa zwei Jahren völlig üblich.
Hat man aber Pech, geht auf so eine Veranstaltung eben doch irgendwer, der erkrankt ist und die Viren übertragen könnte. Dem kann man Abhilfe schaffen dadurch, dass man das zu verhindern versucht. Die AHAL-Regeln sollen dazu beitragen. Aber eine gewisse Unsicherheit ist natürlich immer dabei. Geht man von einer hohen Verbreitung von infektiösen Erkrankten aus, steigt auch die Wahrscheinlichkeit mit so einer Person in Kontakt zu kommen. Es sei denn, man selbst verhindert dies, durch Kontaktvermeidung um bis zu 100 Prozent.
Das Problem dieses genannten Papiers (wie dem obigen) ist meines Erachtens: Einerseits betont man, dass mit den vorgeschlagenen Maßnahmen, bis hin zu Antigen-Schnelltests (fast) alle möglichen infektiösen Menschen herausgefischt werden können. Dabei spielt aber die Umgebung an sich ja keine Rolle. Wenn ich verhindern kann, dass infektiöse Menschen nicht in solche Veranstaltungen gelangen, kann der Inzidenzwert draußen so hoch oder niedrig sein wie er will. Also Theater auf!
Inzidenz und Sicherheit
Komischerweise spielt der Inzidenzwert für die Expert:innen dann doch eine Rolle. Er wird im Wesentlichen abgelehnt – als nicht genügend aussagekräftig. Statt dessen ist ein anderer Wert für Autor:innen maßgeblich, der der Auslastung des Gesundheitswesens. Man fragt sich aber: Warum?
„Aus Sicht der Autoren dieses Konzepts müssen die genannten Zielwerte [wie Inzidenzwerte; MH] mit einem Fortschreiten der Erkenntnisse sowie insbesondere dem kontinuierlich steigenden Impfschutz, vor allem der Risikogruppen, angepasst oder abgeschafft werden. Alternative Ziele, wie beispielsweise die Auslastung der Krankenhäuser oder die Inzidenz in speziellen Altersgruppen, müssen vermehrt in den Blick genommen werden. Dies ist besonders notwendig, weil mit der Impfung von Risikogruppen, sich die Infektionszahlen nicht mehr parallel zur Belastung des Gesundheitswesen bewegen werden. Wesentliche Grundlage für die Einschränkung von Freiheitsrechten soll die Krankheitslast auf Intensivstationen und in Krankenhäusern sein. Dafür sind geeignete Messgrößen zu entwickeln, die bei der Überschreitung von Maximalwerten auch den Ausschluss von Zuschauern und Gästen bei Veranstaltungen bedeuten können.“ (Schrittweise Rückkehr von Zuschauern und Gästen: Ein integrierter Ansatz für Kultur und Sport, S. 9. – Hervorhebung von mir.)
Aber wieso denn? Was hat die Überschreitung von Maximalwerten in der Gesellschaft mit der Sicherheit der Theater und Arenen zu tun? Da kann einem doch nix passieren – und die Problemmenschen liegen doch auf der Intensivstation und nicht in der Schlang vor dem Theater oder der Sporthalle.
Zynisches Menschenbild
Das ist zynisch. Und unklar ist, wie sie das überhaupt definieren. Ist es nicht vielmehr so, dass erstens das Gesundheitswesen seit März 1990 dauerbelastet ist? Ferner im Sinne der Erfüllung ihrer gewöhnlichen Auftragslage immerhin so belastet, dass die gewöhnlichen Eingriffe leider eben nicht mehr alle durchgeführt werden können, sondern verschoben werden. Und zweitens: Bis zu welcher Grenze will man das Gesundheitswesen denn treiben und die darin tätigen Menschen? Bis sie nicht mehr können. Ist es korrekt, dass man für seinen Anspruch auf Kunstfreiheit in Kauf nehmen möchte, dass die Krankenhausstationen bis an die Oberkante mit Coronaerkrankten gefüllt werden. Das nenne ich dann eine großartige Verschiebung, Theater und Arenen bleiben dann solange auf, bis die Krankenwagen vor den Krankenhäusern Schlage stehen. Oder darf man die bis zur Behandlung in gut belüfteten Konzerthäusern sichern.
Wenn das alles also im Namen der Kunstfreiheit zelebriert werden soll, dann bin ich raus. Leider schwenken immer mehr Kulturminister*innen um, auch Kultur- und Musikräte find es mittlerweile akzeptabel. Wenn zum Beispiel wegen der Vorbereitung des Wettbewerbs „Jugend musiziert“ Musikschulen zu öffnen gefordert wird. Weil? Sonst Karriereknick bei 6- bis 20-jährigen droht? Für eine Karriere, die, wie man jetzt sieht, meistens gar nicht so rosig sein wird. Es hat ein bisschen was von Brot und Spiele, von alter sybaritischer Dekadenz. Leuchturmpflege!
Rein praktische Fragen lasse ich mal ganz beiseite wie „Durchführung von Massen-Antigen-Tests“ vor Veranstaltungen, Dokumentation und Datenschutzfragen, Sicherheitschecks, An- und Abreise zu Veranstaltungen. Entsprechende Ausstattungen von Versorgungseinrichtungen und Gebäudemanagement. Es wird in dem Paper zwar versichert, man habe entsprechende Prototypen getestet, näheres wird dazu aber auch nicht ausgeführt.
Das alles im Sinn! Welchen Einfluss hätte das alles wohl auf Außenstehende, auf Menschen, denen diese Kulturspektakel egal sind und die dahinter sowieso nur elitäre Unterhaltung vermuten, die man jetzt als grundgesetzlich Verankerte Kunstfreiheits-Ausübung und -Wahrnehmung nach außen prämiert. Da bildet sich jenseits der Sportverbände eine Achse Berlin/Dortmund/München ab. Beindruckend, aber im Gesamtklang der Kulturhäuser des Landes eigenartig mager. Wie kommt’s?
Peter Grabowski, der kulturpolitische Reporter hat das in einem Kommentar für die Zeitung des Deutschen Kulturrates leider sehr präzise auf den Punkt gebracht. Unter dem Titel „Diese Normalität darf nicht zurückkehren: Am Sinn für tatsächliche Relevanz herrscht im Kulturbetrieb erschreckender Mangel“ schreibt er:
«Und wenn wir wirklich ehrlich mit uns selbst sind, dann gehen wir doch nicht deswegen in Stücke von Elfriede Jelinek und Ewald Palmetshofer oder Ausstellungen von Hito Steyerl und Joseph Beuys, um uns da von „künstlerischen Interventionen irritieren zu lassen“ oder „ganz neue Sichtweisen auf die Welt zu erleben“. Uns irritiert nämlich längst nichts mehr: Gegenwarts- und Postdramatik, zeitgenössische Musik und Medienkunst sind schlicht unsere Freizeitaktivitäten – das böse Wort! Daran ändert auch ihr intellektueller Anspruch nichts. Und macht euch nix vor: Wenn wir hochfrequenten Kulturnutzende eine politische Partei wären, würden wir bei jeder Wahl an der Fünfprozenthürde scheitern. Das wissen doch eigentlich auch alle – oder ahnen es zumindest.“»
Wenn die Kultur- und Kunstszene wirklich auf dem Weg ist, den Lindner zu machen, wie muss man dann Vertreter:innen der Szene wohl einschätzen? Als Held:innen oder als Hasardeur:innen? Und mal ehrlich: Die 20 Expert:innen und Wissenschaftler:innen sind jetzt nicht wirklich welche, die in Sachen Epidemie und Virologie den höchsten Stand repräsentieren.