In seinem Beitrag für die September-Ausgabe der nmz geht unser Autor Hans-Jürgen Schaal der Frage nach, wie die Art und Weise der Musikdarbietung durch technische Hilfsmittel die Art und Weise des insgesamt Hörens verändert. Welche Folgen hat das Streaming von Musik für das Hören von Musik. „Die Wahrnehmung von Musik wird zunehmend atomisiert – sie schrumpft auf Moment-Erfahrungen.“ Eine Momentkultur entsteht. Vor vier Jahren habe ich darauf bereits in einem Artikel mit dem Titel: Das Geschäft mit der Flüchtigkeit hingewiesen.
Das erinnert ein bisschen an die Zeit, als um die Jahrhundertwende (vom 19. zum 20. Jahrhundert) die Großstädte ins Visier der soziologischen Betrachtung fielen. Das Gedränge auf der einen Seite, die auf der anderen Seite eine Distanzierung zur Folge hatte. Da wohnt man auf engstem Raum und kennt seine Nachbarinnen nicht. Georg Simmel hat das in seiner „Philosophie des Geldes“ (1901) früh beobachtet. Er machte das daran fest, dass die Menschen auf einen Kanon der Werte nicht mehr zurückgreifen können. Erkenntnis und Aufklärung haben eine grundlegende Skepsis nach sich gezogen. Was für die Fortschreitung der Technik gilt, erfasst auch Moral und Seele. Und wie so häufig, ist das Verhältnis nicht simpel, sondern dialektisch – in und durch sich vermittelt.
„Der Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele treibt dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die wirre Halt- und Ratlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als Reisemanie, bald als die wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehungen offenbart.“ (Online nachzulesen unter gutenberg.spiegel.de)
Das Tempo scheint heute nochmals gesteigert, die Möglichkeit, Wurzeln zu schlagen, wirkt beinahe absurd. Wie ich darauf komme?
Heute wäre der Komponist Andrzej Panufnik 105 Jahre alt geworden. Im Laufe des Lebens ist mir der Name irgendwann einmal untergekommen. Aber wie, mit was und warum? Ich weiß es nicht mehr. Im Gegensatz zu früher reicht heute eine kurze Recherche im Internet aus und man bekommt mindestens eine kurze Biografie zu Gesicht und eventuell auch Musik von dem Komponisten, die irgendein Orchester irgendwann einmal eingespielt hat und irgendwer einmal beispielsweise bei YouTube hochgeladen hat. Da klickt man sich so durch. Doch dann hat man eben auch einen dieser Momente erwischt, die andauern. Die einen plötzlich eben doch gefangen nehmen. So ist es mir heute ergangen mit einem Stück für 29 Streicher und zwei Harfen: Kolysanka.
Ein Wiegenlied, wie mir der Google-Translator das übersetzt. Das alles innerhalb weniger Minuten. Das ist beeindruckend. Aber beeindruckender ist letztlich doch das Stück von Panufnik, das man da hören kann. Denn es reizt unser Hören und nicht unser Erstaunen vor eine Technik, die man sich zur Gewohnheit gemacht hat.
- 105. Geburtstag von Sir Andrzej Panufnik (* 24. September 1914 in Warschau, Russisches Kaiserreich; † 27. Oktober 1991 in Twickenham, Middlesex, England). Polnisch-britischer Komponist. „Kolysanka“ für 29 Streicher und zwei Harfen auf YouTube.