Heute kann der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas seinen 90. Geburtstag feiern. Den meisten unserer Leserinnen und Lesern dürfte er nicht aufgefallen sein durch eine besondere Affinität zu musikalischen oder auch im weiteren Sinn ästhetischen Fragestellungen. Gleichwohl ist er einer der bedeutendsten Vertreter in Fragen der Analyse von Veränderungen im Gewebe der Öffentlichkeit und gesellschaftlicher Kommunikation.
In seinem Buch “Faktizität und Geltung” hat er kurz einen Faden aufgegriffen, der heute seine volle Wucht entfaltet hat. Er schreibt dort beispielsweise: “Die Personalisierung von Sachfragen, die Vermischung von Information und Unterhaltung, eine episodische Aufbereitung und die Fragmentierung von Zusammenhängen schießen zu einem Syndrom zusammen, das die Entpolitisierung der öffentlichen Kommunikation fördert. Das ist der wahre Kern der Theorie der Kulturindustrie” (Frankfurt 1997 [1992], S. 456). Man wird aktuell im Zusammenhang mit der Ausbreitung der sozialen Netze leider feststellen müssen, dass dies immer perfekter funktioniert. Man kann auf der einen Seite den Eindruck gewinnen, dass noch nie so viel “über” Politik in der Öffentlichkeit gesprochen wurde und muss dennoch feststellen, dass die Themenkreise dabei immer enger werden und tatsächlich Sachfragen hinter Personenfragen zurückfallen. Natürlich gibt es das im Kulturbereich auch, nur war es da schon immer präsent im Starsystem beispielsweise. Da wird über Barenboim geredet, wenn man eigentlich über Machtstrukturen im heiligen Tempel der (musikalischen) Kunst reden müsste. Nur: So funktioniert es heute! Anders lassen sich anscheinend grundlegende Probleme nicht mehr an die Oberfläche der Wahrnehmung tragen, um sie auf breiter Flur zu verhandeln.
Die (elementare) Musikpädagogik allerdings scheint davon kaum tangiert zu sein. In deren Zentrum stand schon immer die ästhetische Entwicklung von Menschen, ihre Sinnesentwicklung und Wahrnehmungsfähigkeit. Sensibilisierung! Gleichwohl ändert sich dieses Verhältnis zur Erfahrung durch schulische Anforderungen augenblicklich, wenn Wettbewerb und Messbarkeit ins Zentrum rücken – da werden die MINT-Fächer immer noch als Vorbild genommen. Prüfen und Messen gehen vor Erfahrungsammeln. Das ist bedauerlich. Ich würde soweit gehen, zu sagen: Bei der Ausbildung menschlicher Sensibilität und Ausdrucksfähigkeit handelt es sich dagegen um die Grundlage gesellschaftlichen Lebens, sie ist die Nullte Gewalt neben anderen unabdingbaren Fähigkeiten wie “gegenseitiger Fürsorge”.
Bei allem aktuellen Fokus auf die ökologischen Bedrohungen der Gegenwart, sollte man dementsprechend nicht in Vergessenheit geraten lassen, was die Soziologen Reimer Gronemeyer und Götz Eisenberg in ihrer Studie „Jugend und Gewalt“ (Hamburg 1993) geschrieben haben, dass „das Raubbauverhältnis des Kapitalismus zur äußeren Natur eine ökologische Krise von katastrophalem Ausmaß produziert hat. Aber so etwas wie eine ökologische Krise gibt es auch in bezug auf auf die innere Natur des Menschen.“ Die Folgen zeigen sich in einer „Aggressivisierung und Brutalisierung in fast allen Lebensbereichen“.
Jetzt habe ich mich doch weit von Habermas’ Theorie entfernt, der natürlich viel präziser in der Analyse des Politischen war und ist. Ich denke aber, da ist bei Habermas ein schlummerndes Potential, das er zu wenig artikuliert, was so schade ist, weil ihm Techniken und Methoden zur Verfügung stünden, auch in diesem Lebensbereich ertragreiche Ergebnisse liefern zu können.
Ursprünglich für den nmz-newsletter.