25. Dezember 2024 Alles muss raus!

Kunst überall, edel [Russland 1918]

“Von heute an soll sich der Bürger, wenn er die Straße entlanggeht, in jeder Minute an der Tiefe des Denkens großer Zeitgenossen ergötzen, er soll das farbige Leuchten der schönen Freude des heutigen Tages betrachten, soll allenthalben der Musik – Melodien, Getöse, Lärm – wunderbarer Komponisten hören. // Die Straßen sollen ein Fest der Kunst für alle sein.“ (Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Kunst. Zaunliteratur und Hinterhofmalerei – Vladimir Majakovskij, David Burljuk, Vasilij Kamenskij)

Wenn schon alles in Umwälzung begriffen ist, dann kann man auch gleich richtig umwälzen. Die russischen Künstler saßen auf gepackten Koffern, es schienen Dinge möglich, die vorher undenkbar waren. Es war schon eine Art Stunde Null zur richtigen Zeit. In einer Zeit, als sowieso die Festung der Kunst bedenklich in alle Richtungen wackelte.

Und wieder findet sich hier der Verweis auf die Bedeutsamkeit des Verkehrs der Menschen: Bahnhof und Eisenbahn.

“Die Künstler und Schriftsteller sind angehalten, ohne zu zaudern nach den Töpfen mit den Farben und Pinseln ihres Gewerbes zu greifen und die Flanken, Stirnen und Brüste der Städte, der Bahnhöfe und der ewig flüchetenden Schwärme von Eisenbahnwaggons zu illuminieren und auszuschmücken.” (ebenda)

Wobei hier das Wort “ausschmücken” eigenartig anmutet. Oder vielleicht doch noch ein Rest des alten Denkens offenbart. Aber man hat tatsächlich ein buntes Wirken vor Augen.

“Wie Regenbögen aus Edelsteinen sollen sich die Bilder (Farben) in den Straßen und auf den Plätzen von Haus zu Haus spannen und das Auge (den Schönheitssinn) des Vorübergehenden erfreuen und veredeln.” (ebenda)

Man reißt die Brücke nach hinten nicht komplett ab, wie auch die Anrede (“Genossen und Bürger”) klarmacht. In der Musik geht man da noch am Weitesten: “Melodien, Getöse, Lärm.” Veredeln heißt nicht beschmieren. Veredeln bedeutet verändern und nicht zerstören.

Dem einen mag es dennoch erscheinen, als ob man sich in die erste Reihe zu stellen wünscht. Die Gunst der Stunde könnte zur Umwälzung auch der Kunstwerte führen. Kunst für alle. Was braucht man da? Kunst! Wer kann sie besorgen? Der Künstler, die Künstlerin!

Das Manifest eint mit anderen der Zeit gewiss die Absicht, Kunst aus den Kunsttempeln zu holen aus “Palästen, Galerien, Salons, Bibliotheken und Theatern”, die man als “Abstellkammern und Schuppen der menschlichen Schöpferkraft” – bzw. präziser, dieses “Dasein der Kunst … beendet.”

Nicht die Institutionen werden also demokratisiert oder geöffnet, sondern sie gelten als nur bedingt für alle zugänglich und damit defizitär. So die These der Autoren vor 99 Jahren.


Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), hg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Stuttgart 2005, S. 140.

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