25. November 2024 Alles muss raus!

Strudelwärts

Gerade beim Weiterhören durch die digitalen Bäuche der Musikgeschchte wieder bei Franz Schubert gelandet. Und auch hier ein Stück ausgemacht, der direkt ins vegetative System einschießt ohne Umweg berührt. Ein Impromptu. Erinnerung an die Samstage bei meiner Tante in Westhagen (Cola und Kaugummi frei, Fernsehen, Steak und Gurkensalat). Auch meine Tante hatte im Betongebiet von Westhagen eine kleine Plattensammlung und eine Stereoanlage. Hier die Fünfte von Beethoven gehört mit einem amerikanischen Orchester, Boston war es wohl mit Charles Munch. Hier gab es auch andere Musik und ich konnte ihr meine Kompositionen vorspielen auf Kassette. Ganz oben im Haus mit Dachterrasse die Familie Wolkenhauer, er und sie. Er mit einem Glasauge und Fotofan. Beratung über die Kamera, die ich mir kaufen wollte. Heute kaum denkbar: Mehrere Monate Suche, Beratung hier und dort, Testhefte ohne Ende aus der Stadtbibliothek. Eine Welt noch ohne Computer und Internet. Nicht einmal mit Privatfernsehen.

Überschaubar: Die Welt. Obwohl die Bedrohung ja nicht geringer schien. Wolfsburg im Zonenrandgebiet, der Russe vor der Tür und hinter ihm der Chinese. Innerorts deutscher Herbst und so. In der Klasse einer der wenigen, die damals gegen die Einführung der Todesstrafe plädierten. Eigentlich waren wir nur zwei. Der andere war jemand, der schon mal ein bisschen grob werden konnte. Höchste Eskalationsstufe, sein Wurf eines Papierkorbs in Richtung der Lehrerin im Referedariat. Eine Frau mit einer 1 auf dem Konto. Sie kam danach nicht mehr in unsere Klasse.

Selbst die Eskalation schien einem irgendwie gemütlicher. Zumindest für mich als Schüler. Meine Elterns müssen, so sehe ich es wenigstens mit Blick auf mich, einiges richtig gemacht haben. Auch meine „Hood“ – wenn man bedenkt, dass zum Beispiel so etwas wie die Beichte in der Wolfsburger Kirche gerne am Tisch, sitzend gemacht wurde. Viel zu sagen hatte man nicht. Aber Ratschläge gab es von oben. Alles sehr weltlich, alles sehr nah, alles sehr ohne „Sündflut“. Die Mischung aus Arbeiterstadt und Beamtenwelt, von Vertriebenen, Gastarbeitern aus Italien vorrangig, später Spätaussiedler, es ging eigentlich ganz gut zusammen.

Der Wohnungsbau hat allerdings auch damals schon Probleme erzeugt. Neuland-Burg nannte sich so ein Wohnkomplex, der zu Testzwecken errichtet worden sein soll. War damals noch weniger erschütterbar als heute. Bekam mal aufs Maul, weil ich irgendwelchen Jungs nichts von meiner Chipstüte abgeben wollte. Heute würde ich die wohl auf den Boden fallen lassen und die Beine in die Hand nehmen.

Wie komme ich jetzt darauf? Die Musik hat mich zurück katapultiert. In eine Zeit an die man sich so erinnert, wie es einem einfällt und wie man es gerade braucht.

 

kritische masse newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.