23. November 2024 Alles muss raus!

Eine Frage, Herr Luhmann!

Ich hab da mal ‘ne Frage, Herr Luhmann. Ihr Verlag, vielleicht sogar Sie selbst schreiben auf den Klappentext zu “Die Kunst der Gesellschaft”:

„Niemand sonst macht das, was sie macht.“

Das stimmt wahrscheinlich. Aber das führt mich zu der Frage, wie sehr oder wenig abgeschlossen ihre Sammlung “Der/Die/Das … der Gesellschaft“ ist. Sie haben die Kunst, die Wirtschaft, die Gesellschaft, das Recht, die Wissenschaft, die Politik, die Religion, das Erziehungssystem der Geselllschaft sich angesehen. Wahrlich eine stolze Reihe.

Aber irgendwie auch akademisch. Gerade so, als ob sie durch den Campus ihrer Universität gegangen wären und zu jedem Haus auf dem Campus ein Text geschrieben hätten. In Ihrer näheren Umgebung waren aber offensichtlich keine Physiker, Chemiker, Mathematiker und auch keiner Mediziner. Auch hier gilt doch „Niemand macht, wa sie machen.“ Ebenso machen Sie einen weiten Bogen um die Philosophie, aber auch weitere andere Disziplinen.

Man könnte sagen: Okay, das wird mit der Wissenschaft der Gesellschaft erledigt. Aber was ist mit unkünstlerischer Kunst, es gibt ja nicht nur Picasso sodern auch Dieter Bohlen. Was ist mit Kultur im weiteren Sinn, mit Mode, mit Städtebau, mit Prostitution, mit dem Ich?

Sicher ein ganz dummer Fragenkatalog? Wenn aber nicht, fehlen dann diese Werke im Werkverzeichnis, hat die Zeit nicht gereicht? Oder mache ich nur wieder einer blöden Denkfehler?

Bitte um Aufklärung.

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7 Kommentare

  1. Versuch einer Aufklärung
    Ich bin zwar nicht Luhmann, möchte aber trotzdem mal antworten. Der Grund für die fehlenden Werke zu den benannten Gegenständen liegt einfach darin, dass es sich dabei nicht um Funktionssysteme der Gesellschaft handelt. Dafür muss man den funktionalistischen Ansatz von Luhmann verstanden haben, der jedes Funktionssystem auf ein spezifisches soziales Problem zurückführt, für das das jeweilige Funktionssystem die Lösung ist. Diese Bezugsprobleme der einzelnen Funktionssysteme habe ich vor Kurzem auf meinem eigenen Blog rekonstruiert: http://goo.gl/cKCkji

    Aus dieser Perspektive stellt Kultur dann nicht die Lösung für ein spezifisches soziales Problem dar, denn jedes Funktionssystem hat in gewissem Sinne seine eigene Kultur, Mode, Sprache, Architektur etc. Kultur steht also irgendwie quer zu den Funktionssystemen der Gesellschaft. Kultur unterstützt vielmehr in allen sozialen Situationen die Aufmerksamkeitsfokussierung unabhängig davon, wie das im Einzelnen geschieht. Spannend wird es allerdings erst bei der Frage, wie das im Einzelnen geschieht. Luhmann hat übrigens mal geschrieben, dass Kultur die Börse wäre, an der die aktuellen Optionen auf Paradoxieentfaltung gehandelt werden.

    Prostitution ist ein Spezialproblem des Wirtschaftssystems – knappe verfügbare Sexualpartner. Wenn’s mit der Suche nach einem Sexualpartner nicht klappt, kauft man sich den einfach. Der Begriff „käufliche Liebe“ ist in diesem Zusammenhang irreführend, denn Liebe kann man nicht kaufen, wenn dann nur Sex. Für Liebe gibt es übrigens keine Fakultät auf einem Campus.

    Tja, und das Ich gehört einfach zur Umwelt der Gesellschaft.

    1. Funktionssysteme

      Oh danke. ich bin ja nicht so vertraut mit der Terminologie, komme aus einer veralteten Schule. Ich werde das noch genauer lesen, denn die Mühe soll nicht umsost gewesen sein.

      Aber eine Frage mag ich zurückgeben.

      „Funktionssystem“ der Gesellschaft! Ist die Anzahl und ihr Umfang auf diejenigen beschränkt, die Luhmann da ausgeführt hat, oder fehlt da nicht das eine oder andere und wenn welches. Oder umgekehrt, sind diese Funktionssysteme nicht Ergebnis historischer Prozesse (Kunst gabs ja nicht immer und Wirtschaft ist auch relativ neu) – also. Bzw. kann man diese Funktionssysteme denn so prima trennen, wie es die Titel der Bücher suggerieren.

      Und b) In Gießen gab es den Studiengang, abgekürzt “H&E”, das stand in den 80er Jahren für Hygiene & Erotik – über Liebe debattierte man dann wohl eher bei den Romanisten. 😉

  2. @huflaikhan
    @huflaikhan

    Zur ersten Frage: Wenn man von den Problemkonstruktionen ausgeht, wie ich sie in meinem Text dargestellt habe, dann gibt es zunächst keinen Grund anzunehmen, dass die Anzahl der Funktionssysteme auf die beschränkt sein muss, die Luhmann in seinen Monographien beschrieben hat. Gleichwohl kann ich aber darüberhinausgehend, kaum weitere Funktionssysteme identifizieren. Bis auf das Erziehungssystem würde ich voll mit Luhmann mitgehen. Es gab bereits Versuche weitere Funktionssysteme zu identifizieren, z. B. Sport oder Literatur. Die haben mich allerdings nicht überzeugt, gerade weil ich keine Problemstellung konstruieren lässt, für die Sport oder Literatur gesamtgesellschaftlich und exklusiv eine Lösung darstellen. Literatur ist für mich eindeutig eine Kunstform und somit dem Funktionssystem Kunst zuzurechnen.

    Analytisch lassen sich die Funktionssysteme durch die Rückführung auf das jeweilige Bezugsproblem relativ leicht auseinanderhalten. Empirisch wird man jedoch häufig feststellen, dass die entsprechenden funktionssystemeigenen Semantiken zumindest in Europa noch längst nicht soweit funktional differenziert sind, wie es die Theorie vermuten lässt. Das liegt daran, dass hier in Deutschland und Europa immer noch ein hierarchisches und damit vormodernes Gesellschaftsverständnis gepflegt wird. Das zeigt sich z. B. an der Frage, ob denn nun der Wirtschaft oder der Politik ein Primat bei der Strukturierung der gesellschaftlichen Ordnung zukommen sollte. Beide Sichtweisen gehen von einem obersten Prinzip aus und suggerieren, dass man sich für eine der Alternativen entscheiden müsste. Beim Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung kommt es aber zu einer Umstellung von einer hierarchischen zu einer heterarchischen Gesellschaftsstruktur. Demnach gibt es kein oberstes Prinzip mehr, sondern Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft, Kunst, Liebe etc. operieren gleichberechtigt nebeneinander. Empirisch ist dies jedoch häufig noch nicht der Fall, weil viele immer noch an eine hierarchisch strukturierte Gesellschaft glauben an dessen Spitze am Besten die Politik stehen sollte. Viele der heutigen gesellschaftlichen Probleme lassen sich meiner Meinung nach darauf zurückführen, dass der Übergang von der Vormoderne zur Moderne bzw. von statifikatorischer zu funktionaler Differenzierung in Europa noch nicht sehr weit vorangeschritten ist.

    Geht man von „Liebe als Passion“ aus, dann kann vermutlich leicht der Eindruck entstehen, dass Romanisten die einzigen Ansprechpartner zu dem Thema sind. Ich muss allerdings gestehen, dass ich noch nie über das dritte Kapitel hinausgekommen bin. Einige meiner eigenen Gedanken zum Thema Liebe, ausgehend von der sozialen Problemstellung, habe ich kürzlich hier veröffentlicht:

    http://goo.gl/kjvZL7

    http://goo.gl/7uYMPm

    1. Die Öffentlichkeit und der große Block

      Ich sehe das Problem in ähnlicher Weise wie in Punkt 2 angesprochen und es beschäftigt mich immer bei der Beurteilung von Veranstaltungen, die sich mit zum Beispiel Kunst und Urheberrecht, beschäftigen. Ich bin da wie im Schleudersitz, weil die Sphären Recht, Politik, Wirtschaft, Kunst ja überhaupt nicht sich trennen lassen, sie vielmehr interagieren und steter Durchdringung unterworfen sind.

      Deswegen finde ich es aber auch schwer, irgendwem ein Primat zuzusprechen. Es mag sein, dass IKEA für unsere Gesellschaft mehr „Bedeutung“ hat als ein Furz von Warhol.

      Es ist aber doch auch in anderer Hinsicht kein Zufall, dass in der deutschen Politik so viele Juristen im Parlament sitzen, noch mehr in den Verwaltungen vermutlich. Es macht für mich alles eher den Eindruck, als laufe alles ineinander und zusammen, zu einem großen Haufen. (Aber wurscht?)

      Letzte Frage: Wie sieht es aus mit der Öffentlichkeit als ein Funktionssystem? Kann man die so auffassen oder was spräche dagegen? Die kann auch etwas, was sonst niemand kann.

  3. Ja, das Problem der
    Ja, das Problem der Durchdringung ist wirklich knifflig. Darauf gehe ich u.a. auch im kommenden Text auf meinem Blog nochmal ein. Welchem Funktionssystem eine bestimmte Kommunikation zugeordnet werden kann, hängt davon ab, welches der sozialen Probleme damit gelöst wird. Geht es z. B. um die Reproduktion bestimmter Stile, schließt Kunst an Kunst an. Geht es um die Verteilung von Kunstwerken – und gute Kunst ist ja irgendwie immer knapp 😉 – handelt es sich um eine wirtschaftliche Kommunikation. Geht es um die Frage, wer der Künstler ist, der dann auch zunächst als Einziger einen legitimen Anspruch auf eine angemessene Bezahlung seines Kunstwerks erheben kann, dann handelt es sich um rechtliche Kommunikation.

    Ebenso stellt sich bei Organisationen die Frage, welchem Funktionssystem die zugeordnet werden können. Diese Frage lässt sich beantworten, wenn man schaut, welches Problem durch die Leistung oder Leistungen der betreffenden Organisation gelöst wird. Innerhalb einer Organisation gibt es dann also im Gegensatz zur Gesamtgesellschaft sehr wohl ein Funktionsprimat, dem sich alle anderen Kommunikationen, rechtliche, wissenschaftliche, erziehende etc. unterordnen müssen bzw. auf das Organisationsziel hin organisiert werden müssen. So hat sich der Geldeinsatz in einer Schule dem Ziel unterzuordnen den Unterrichtsbetrieb aufrecht zu erhalten. Ebenso gilt es störende politische Einflüsse draußen zu halten, die nichts mit Erziehung sondern mehr mit ideologischer Indoktrination zu tun haben. Die Proteste gegen den Bildungsplan der grün-roten Regierung in BaWü sind ein Beispiel, wo gegen bestimmte Lehrinhalte protestiert wird, von denen zumindest ein paar Leute denken, dass diese nicht mehr zu den Erziehungsaufgaben der Schule gehören. Wie berechtigt oder unberechtigt die Proteste sind, sei mal dahin gestellt. Es geht mir erstmal nur darum, darauf aufmerksam zu machen, dass der Bildungsplan Lehrinhalte enthält, die nicht mehr als erziehende sondern als politische Kommunikation verstanden wird.

    Den Eindruck, dass alles irgendwie einander übergeht und zusammenfließt, den habe ich auch. Das liegt aber meinem Eindruck nach eben an der nachlaufenden funktionalen Differenzierung. Insofern ist der Verweis darauf, dass es empirisch nicht immer so ist, wie Luhmann es beschrieben hat, kein Einwand gegen Luhmann, sondern eigentlich nur eine Feststellung darüber, dass die Kommunikation hier noch nicht so weit entwickelt bzw. differenziert ist, wie in anderen Ländern. Man könnte eine derartige Kritik an Luhmann also auch als die Bestätigung von Luhmann betrachten.

    Bei Öffentlichkeit handelt es sich nicht um ein Funktionssystem. Vielmehr wird die systeminterne Umwelt eines Funktionssystems als Öffentlichkeit bezeichnet. Durch Öffentlichkeit wird die Beobachtbarkeit relevanter Informationen hergestellt. Märkte sind z. B. in diesem Verständnis keine Systeme. Märkte stellen in der Wirtschaft lediglich die Möglichkeit her, dass sich die Wirtschaftsteilnehmer, konkurrierende Unternehmen und auch Konsumenten, gegenseitig beobachten können, um Preise und Produkte zu vergleichen. Um sich das etwas konkreter vorzustellen, kann man hier tatsächlich erst mal das Beispiel des Jahrmarktes nehmen. Zugleich kann dieses Verständnis von Öffentlichkeit auch auf alle anderen Funktionssysteme übertragen werden. Über die politische Öffentlichkeit können sich Politiker und Wähler gegenseitig beobachten. In Galerien oder auch Konzerten können sich Künstler und Publikum gegenseitig beobachten. Die Öffentlichkeit des Rechts wird durch Gerichtsverfahren hergestellt. Durch die Verbreitungsmedien Buch, Zeitung, Funk, Fernsehen und Internet werden auch Möglichkeiten der gegenseitigen Beobachtung hergestellt, die nicht mehr die Anwesenheit der Beteiligten erfordern.

    Von Öffentlichkeit in diesem Sinne muss man allerdings noch das Funktionssystem der Massenmedien unterscheiden, die sich auf die Selektion und Verbreitung bestimmter Informationen unter den Gesichtspunkten der Neuheit und der Aufmerksamkeitsträchtigkeit spezialisiert haben. Während Öffentlichkeit, die Möglichkeit wechselseitiger Beobachtung, egal ob unter Anwesenden oder Abwesenden, meint, verbreitet das Funktionssystem der Massenmedien gemäß ihrer Selektionskriterien nur bestimmte Informationen und machen sie beobachtbar.

    Bei Interesse hier noch weiterführende Texte:

    Die Öffentlichkeit der Gesellschaft & das Internet http://goo.gl/TXrgzE

    Kontingenz, Kritik und das Internet http://goo.gl/ffQURp

    Die Beobachtung der Beobachtung. Exkurs über Massenmedien http://goo.gl/DZTCGa

    1. Dankdankdank

      Soweit, vielen Dank.

      Jetzt nur noch eine Fundstelle. Ich habe bei Luhmann ein Funktionssystem gefunden, dem er kein Buch gewidmet hat. In “Die Wissenschaft der Gesellschaft” schreibt er auf Seite 672:

      “In fast allen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft, ausgenommen eigentlich nur die Familie, spielt Organisation eine bedeutende Rolle.” (Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Ffm 1992, S. 672.)

      Also wird die Familie hier als Funktionssystem aufgefasst. Stimmt doch, oder?

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