Jetzt ist das Oktoberfest in München rum und beinahe hätte ich den Absprung verpasst, denn der gute Ödön von Horváth hat einmal in einem Fragment das Treiben dort so eindrücklich geschildet wie auch die Wesensart der Beteiligten, dass man nicht recht weiß, ob man darüber lachen und erschrecken muss. [Nachtrag: Jetzt sehe ich, es ist gar nicht das Oktoberfest, also noch schlimmer, die Starkbierzeit.]
Charlotte. Roman einer Kellnerin
Es waren drei Wochen vergangen seit dieser Redoute, der Fasching war aus, die Starkbiersaison begann, München flaggte zum Nationalfeiertag und es gab zwei Wochen hindurch täglich fünf- bis sechstausend Betrunkene. Die Straßenbahnen konnten nicht weiterfahren, weil sich die Leute auf den Schienen auszogen, es wurden im ganzen zweiundzwanzig Leute erstochen, darunter zweiundzwanzig Norddeutsche, drei erschossen, einer hat sich selbst erschossen, aus lauter Gemütlichkeit. Die Leute standen von den Tischen nicht mehr auf, kotzten daneben hin, sangen: Deutschland, Deutschland über alles, versicherten im Chor, daß es nur ein Loisachtal gibt und frugen sich gegenseitig, ob sie auch das Tal im »Alpenglühen« kennen, Bayrischzell und die Alpenkönigin Edelweiß. Drei Frauen und neun Männer wurden vergewaltigt und siebzehntausend-zweiundzwanzig Ehen gebrochen und ungefähr dasselbe fast gebrochen. Vornehme Damen traten einfach heraus und pißten auf die Straße, die Schutzmänner hatten anstrengenden Dienst. In einer Bierbude saßen zehn Männer um einen Tisch. Der eine wollte sich den Mantel holen, sah aber, daß er gestohlen war, sprang auf den Tisch und schrie: »Damit ihr seht, wie ich mir das zu Herzen nehme, erschieß ich mich«, und zog einen Revolver und erschoß sich. Fiel tot über den Tisch, an dem sein Bruder saß, der sagte nur: »Is dös aba a Witz, jetzt derschieaast si der wegn an Mantl.« Das Blut rann mit dem Bier zusammen und die Ordner schafften die Leiche aus dem Saale. Es war sehr gemütlich. An Alkoholvergiftung erkrankten dreißig Personen, eine Frau wurde bewußtlos in das Krankenhaus gebracht. Ein würdiger alter Herr mit Bismarckblick stieg am Marienplatz ein und fiel mit seinem langen weißen Bart um. Alles bemühte sich um den Patriarchen, als er zu sich kam, spie er den Wagen voll, der gute alte Herr, und rülpste nach Bier und Rettich. »Herzlichen Dank, meine Herren!« sagte er und fiel aus der Straßenbahn. Die Sanitäter brachten ihn mit einem komplizierten Oberschenkelbruch in das Krankenhaus. Er starb dort, der Arme, am Säuferwahn.
Sein Delirium: Kleine Kinder bekamen Bier eingeflößt, die Brust der Münchener Mutter hatte Bier statt Milch, und in den Kirchen verwandelte sich Bier in das Blut des Nazareners. Die ganze Stadt war ein Bierkeller, es gründete sich ein Verein gegen das schlechte Einschenken, der stellte den Ministerpräsidenten, und man vergaß das Vaterland, es hieß statt Bayern und Pfalz, Hopfen und Malz, Gott erhält’s!
Und während der Arme am Säuferwahn starb, kam der Vater Charlottes nach Hause. Am Hute trug er Tannenreis. Er legte sich zu Bett.
Der angestammte König, Otto von Wittelsbach, war verrückt und infolgedessen regierte der Prinzregent Luitpold, den die Welt von den Briefmarken her kennt. Er unterstützte die Künstler, ging auf die Ateliers, ging auf die Gemsjagd und Wilhelm der Zweite war ihm höchst unsympathisch. Er war schon ein alter Herr, rauchte schwere Zigarren und war allseits beliebt, denn er störte nirgends, wo er hinkam. Er sah dekorativ aus, und der Bayer liebt das Kunstgewerbe.
Die Münchener Bürger kümmerten sich nicht um Politik, und ihr ererbter Liberalismus äußerte sich nicht im Freihandel, sondern in einer Duldsamkeit gegen den Rausch, die Besoffenen. Freie Bahn dem Besoffenen, das war die Parole.
Die Museen mußten wegen dem Fremdenverkehr errichtet werden, der blühte. Jeder Maler war Professor, die Schwabinger beliebt, der Geist geduldet, die Künstlerfeste,dazu mußte man die Kunst haben. Der Mittelstand erwies wiedermal seine Kulturaufgabe, als der Stand, der die Kultur trägt. Der Kitsch blühte, Zarathustra tanzte und Isar-Athen war so gemütlich, die Stadt der Musen, der Boheme, dieser bürgerlichen spießigen Anarchisten und des deutschen Museums, dieses Wunderwerkes der Technik.
Charlottes Mutter las soeben in der Zettung, daß Zar Nikolaus mit Imperator Rex Wilhelm zwo zusammentraf und [sie] sich herzlich begrüßten und daß der Bürgermeister von Berlin, Herr von Jagow, auf die Leute schießen ließ und daß wieder so eine Schweinerei von einem gewissen Wedekind verboten worden ist und daß Ludwig Thoma wegen Beleidigung von Vertretern von Sittlichkeitsvereinen eingesperrt worden ist, als ihr Mann eintrat. Sie fühlte sich in gewisser Weise als Siegerin über ihn und seit dieser Redoute hatte sie es sich vorgenommen, ihn ab und zu zu ärgern. Er schien ihr plötzlich minderwertig, und daß sie eine viel bessere Partie hätte machen können. Es war ihr aber, als merkte er ihre Gedanken und [da] tat er ihr wieder leid. Er setzte sich in den Stuhl und las die kleinen Anzeigen, wer gestorben ist usw., das andere, denn ob unsere Zukunft am Wasser liegt, oder nicht, das interessierte ihn nicht. Sie bildete sich ein, daß das Kind vom Attache war, und es war doch von ihm, denn nach jener Redoute nahm er sie auch, denn das dicke Mädel war plötzlich mit einem jungen Studenten verschwunden mit wasserblauen Augen, der zum erstenmal auf einer Maskengaudi war. Der Attache konnte nämlich gar kein Kind bekommen, das wußte er. Er war unfruchtbar, und das war gut so. Also war Charlotte rechtlich korrekt erzeugt und die geheime Hoffnung der Mutter zu Schanden geworden.
Aus: Horváth, Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlaß, Ffm 2001, S. 23 f.
Jetzt ist das Oktoberfest in München rum und beinahe hätte ich den Absprung verpasst, denn der gute Ödön von Horváth hat einmal in einem Fragment das Treiben dort so eindrücklich geschildet wie auch die Wesensart der Beteiligten, dass man nicht recht weiß, ob man darüber lachen und erschrecken muss. [Nachtrag: Jetzt sehe ich, es ist gar nicht das Oktoberfest, also noch schlimmer, die Starkbierzeit.]
Charlotte. Roman einer Kellnerin
Es waren drei Wochen vergangen seit dieser Redoute, der Fasching war aus, die Starkbiersaison begann, München flaggte zum Nationalfeiertag und es gab zwei Wochen hindurch täglich fünf- bis sechstausend Betrunkene. Die Straßenbahnen konnten nicht weiterfahren, weil sich die Leute auf den Schienen auszogen, es wurden im ganzen zweiundzwanzig Leute erstochen, darunter zweiundzwanzig Norddeutsche, drei erschossen, einer hat sich selbst erschossen, aus lauter Gemütlichkeit. Die Leute standen von den Tischen nicht mehr auf, kotzten daneben hin, sangen: Deutschland, Deutschland über alles, versicherten im Chor, daß es nur ein Loisachtal gibt und frugen sich gegenseitig, ob sie auch das Tal im »Alpenglühen« kennen, Bayrischzell und die Alpenkönigin Edelweiß. Drei Frauen und neun Männer wurden vergewaltigt und siebzehntausend-zweiundzwanzig Ehen gebrochen und ungefähr dasselbe fast gebrochen. Vornehme Damen traten einfach heraus und pißten auf die Straße, die Schutzmänner hatten anstrengenden Dienst. In einer Bierbude saßen zehn Männer um einen Tisch. Der eine wollte sich den Mantel holen, sah aber, daß er gestohlen war, sprang auf den Tisch und schrie: »Damit ihr seht, wie ich mir das zu Herzen nehme, erschieß ich mich«, und zog einen Revolver und erschoß sich. Fiel tot über den Tisch, an dem sein Bruder saß, der sagte nur: »Is dös aba a Witz, jetzt derschieaast si der wegn an Mantl.« Das Blut rann mit dem Bier zusammen und die Ordner schafften die Leiche aus dem Saale. Es war sehr gemütlich. An Alkoholvergiftung erkrankten dreißig Personen, eine Frau wurde bewußtlos in das Krankenhaus gebracht. Ein würdiger alter Herr mit Bismarckblick stieg am Marienplatz ein und fiel mit seinem langen weißen Bart um. Alles bemühte sich um den Patriarchen, als er zu sich kam, spie er den Wagen voll, der gute alte Herr, und rülpste nach Bier und Rettich. »Herzlichen Dank, meine Herren!« sagte er und fiel aus der Straßenbahn. Die Sanitäter brachten ihn mit einem komplizierten Oberschenkelbruch in das Krankenhaus. Er starb dort, der Arme, am Säuferwahn.
Sein Delirium: Kleine Kinder bekamen Bier eingeflößt, die Brust der Münchener Mutter hatte Bier statt Milch, und in den Kirchen verwandelte sich Bier in das Blut des Nazareners. Die ganze Stadt war ein Bierkeller, es gründete sich ein Verein gegen das schlechte Einschenken, der stellte den Ministerpräsidenten, und man vergaß das Vaterland, es hieß statt Bayern und Pfalz, Hopfen und Malz, Gott erhält’s!
Und während der Arme am Säuferwahn starb, kam der Vater Charlottes nach Hause. Am Hute trug er Tannenreis. Er legte sich zu Bett.
Der angestammte König, Otto von Wittelsbach, war verrückt und infolgedessen regierte der Prinzregent Luitpold, den die Welt von den Briefmarken her kennt. Er unterstützte die Künstler, ging auf die Ateliers, ging auf die Gemsjagd und Wilhelm der Zweite war ihm höchst unsympathisch. Er war schon ein alter Herr, rauchte schwere Zigarren und war allseits beliebt, denn er störte nirgends, wo er hinkam. Er sah dekorativ aus, und der Bayer liebt das Kunstgewerbe.
Die Münchener Bürger kümmerten sich nicht um Politik, und ihr ererbter Liberalismus äußerte sich nicht im Freihandel, sondern in einer Duldsamkeit gegen den Rausch, die Besoffenen. Freie Bahn dem Besoffenen, das war die Parole.
Die Museen mußten wegen dem Fremdenverkehr errichtet werden, der blühte. Jeder Maler war Professor, die Schwabinger beliebt, der Geist geduldet, die Künstlerfeste,dazu mußte man die Kunst haben. Der Mittelstand erwies wiedermal seine Kulturaufgabe, als der Stand, der die Kultur trägt. Der Kitsch blühte, Zarathustra tanzte und Isar-Athen war so gemütlich, die Stadt der Musen, der Boheme, dieser bürgerlichen spießigen Anarchisten und des deutschen Museums, dieses Wunderwerkes der Technik.
Charlottes Mutter las soeben in der Zettung, daß Zar Nikolaus mit Imperator Rex Wilhelm zwo zusammentraf und [sie] sich herzlich begrüßten und daß der Bürgermeister von Berlin, Herr von Jagow, auf die Leute schießen ließ und daß wieder so eine Schweinerei von einem gewissen Wedekind verboten worden ist und daß Ludwig Thoma wegen Beleidigung von Vertretern von Sittlichkeitsvereinen eingesperrt worden ist, als ihr Mann eintrat. Sie fühlte sich in gewisser Weise als Siegerin über ihn und seit dieser Redoute hatte sie es sich vorgenommen, ihn ab und zu zu ärgern. Er schien ihr plötzlich minderwertig, und daß sie eine viel bessere Partie hätte machen können. Es war ihr aber, als merkte er ihre Gedanken und [da] tat er ihr wieder leid. Er setzte sich in den Stuhl und las die kleinen Anzeigen, wer gestorben ist usw., das andere, denn ob unsere Zukunft am Wasser liegt, oder nicht, das interessierte ihn nicht. Sie bildete sich ein, daß das Kind vom Attache war, und es war doch von ihm, denn nach jener Redoute nahm er sie auch, denn das dicke Mädel war plötzlich mit einem jungen Studenten verschwunden mit wasserblauen Augen, der zum erstenmal auf einer Maskengaudi war. Der Attache konnte nämlich gar kein Kind bekommen, das wußte er. Er war unfruchtbar, und das war gut so. Also war Charlotte rechtlich korrekt erzeugt und die geheime Hoffnung der Mutter zu Schanden geworden.
Aus: Horváth, Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlaß, Ffm 2001, S. 23 f.