29. Dezember 2024 Alles muss raus!

Sybaris – Danza alla tedesca

Großvater Stöffel
ißt den Brotaufstrich mit dem Löffel.
Die krumme Liese
kocht das Pferdefleisch in Margarine.
Witwe Plem wäscht ihrem Großen,
zweimal die Woch’ die Unterhosen.
Die Familie Schober
heizte vor’ges Jahr schon im Oktober.
Bei Dreher Fichte
brennt oft noch nach neun Uhr das Lichte.
Wenn man so was hört, sagt man unbesehn:
Ein solches Volk muß untergehn,
ein solches Volk muß untergehn.

Unbesehn muss es untergehn. Wieso denn, fragte ich meinen marxistisch geschulten Freund. Es geht denen doch gut, alles Beispiele zeigen doch, dass die Personen in Wohlstand leben. Sie können Dinge machen, die bei Armut nicht so möglich wären. Die Antwort habe ich nicht mehr wortgenau im Kopf, denn es ist gut zwanzig Jahre her. Aber er meinte, der Untergang sei Folge des Wohlstands. Ein solches Volk verfette an sich selbst und sei daher dem Untergang geweiht.

Das brachte mich auf einen anderen Weg. Denn einen solchen Vorwurf kennt auch die Geschichte der Antike – im Fall der Stadt Sybaris. Bis vor einiger Zeit konnte man jemanden noch „Sybarit“ nennen und man bezeichnete jemanden, dem es sich zu wohl gehen ließ als solchen. Erschlaffung durch Überfluß. Sybaris wurde zu einem Code; nur wie findet man etwas über Sybaris heraus?

Als regelmäßigem Besucher der Universitätsbibliothek in Gießen machte ich mich auf die einfachste Suche, die man sich denken kann: Lexika. Klar. Bei den aktuellsten fing ich an. Doch da standen kaum mehr als vier Zeilen. Jedoch, je weiter ich zurückging in der Zeit der Enzyklopädien, desto länger wurden die Artikel über Sybaris. Das erstaunte mich. Wie, wenn doch das Wissen zunimmt, wieso wird es an bestimmten Beispielen immer weniger? Das älteste Lexikon im Präsenzbereich der Bibliothek, das “Große Universal Lexikon” von 1744 bot den längsten Artikel.

Großes Universal Lexikon 1744

Sybaris, eine ehemahls berühmte Stadt in Lucania zwischen den beiden Flüssen Sybaris, von dem sie auch ihren Nahmen hat, undCrathide an dem Sinu Tarentino. So, nach des Eusebius Bericht, ihn 4 Jahre der 17 Olymp. Das ist, ohngefehr 45 Jahre nach dem Anfange der Stadt Rom, von denen Achivis unter der Anführung des Iseliceus, oder nach andern von denen Troezeniis unter der Anführung des Sagaris, eines Sohnes des Ajax Oriens, erbauet, oder doch von dem einen erbauet, und von dem anderen sodann erweitert wurde. Wenigstens nahm sie mit der Zeit dergestalt zu, daß sie bis 15 andere Städte mit fünf benachbarten Provinzen unter ihre Herrschaft brachte, und endlich bis zu 300000 Mann ins Feld stellen konnte.

Wie aber ihre Einwohner in allem eine solche Üppigkeit triebenm daß sie selbst darüber zu einem gemeinen Sprüchworte wurden, indem sie z.B. keinen Hahn, nach dem Berichte des Athenäus innerhalb der Stadt=Mauern litten, damit er sie nicht des Nachts mit seinem Krähen im Schlaffe stören möchte. In eben dieser Absicht wollten sie keine Handwerker in der Stadt leiden, damit nehmlich nicht etwan das durch ihre Arbeit verursachte Geräusche ihre Ruhe unterbrechen mochte. Wenn einer den andern zu Gaste lud, mußte es ein ganzes Jahr zuvor geschehen, damit sich indessen die Weiber genugsam darzu anschicken konnten. Daher das Sprüchwort MENSA SYBARITICA entstanden ist.

Weil sie große Liebhaber der Ahle gewesen, waren die Fischer, welche sie gefangen, von allen Auflagen befreyet. Wenn sie schlieffen, legten sie sich wohl gar auf lauter Rosen=Blätter und beklagten sich doch noch wohl, daß ihnen solche Blätter Beulen gedruckt. So stellet Seneca einen von den Einwohnern dieser Stadt vor, Myndrides, oder Symnorides, wie Aristoteles ihn nennet, der sich darüber beschwere, daß er in einer gewissen Nacht keine Ruhe habe finden können, weil einige Rosen=Blätter, worauf er gelegen, unter ihm etwas gekrümmet gelegen, da sie hätten sollen gleich ausgetrecket liegen. Ihre Pferde gewöhnten sich nach der Musik zu tantzen, und was dergleichen alles mehr war.

Wie es damit endlich zum höchsten kam, geriethen sie im Jahr der Welt 3440 oder um das Jahr 244 nach Erbauung der Stadt Rom, mit denen von Croton, welche Stadt nur 150 Stadien von ihnen ablag, in Krieg, indem ihr König Telys bis 500 derer besten Bürger ins Exilium vertrieb, die sich nach besagtem Ort retirierten und da sie die von Sybaris woeder forderten, auf des Pythagoras Zureden, von denen Crotoniaten in Schutz genommen wurden. Als es aber mithin zur Schlacht kam, stelleten zwar die Sybariten 300000 Mann ins Feld, die von Croton aber nur 100000. Allein, weil sich unter denen vertriebenen Sybariten insbesondere auch ein Musikus mit befand, der die Melodien wußte, so denen Pferden derer Sybariten aufgemacht werden, wenn sie sich auf die Knie niederlegen, und ihre Herrn auf- oder absteigen lassen sollten; so machte dieser mit einem Theil seines Gleichens solches Stückgen auf, da sich denn der Sybariten Pferde insgesamt niederlegten, und also Gelegenheit gaben, nicht nur ihre Herren desto füglicher zu caputieren, sondern auch, da solche meist zu Pferde dieneten, ihre gesamte Macht über den Haufen zu werffen.

Es wurde mithin auch die Stadt Sybaris selbst von denen Feinden unter des Milo Anführung erobert, und von Grund aus zerstöret. …Ihrer gedachten Wollust wegen wurden sie zum Sprüchworte, daß SYBARISSARE in Schwelgen leben, und SYBARITA PER PLATEAS ein Hochmüthiger, wie auch SYBARITICUS, so viel als ein Weichlicher und Weiblicher hieß, weil sie vor allen anderen Nationen dem Hochmuth ergeben gewesen.

Und der war nun wirklich aufschlussreich. Vielleicht erfüllt er nicht die Anforderungen an Lexikon-Artikel aus der heutigen Zeit. Er erzählt die Geschichte der Stadt, garniert mit einigen Belegen. Was mich als Musiker nun weiter verblüffte, war, dass an einer bestimmten Stelle die Musik (ein Musikus) eine zentrale Rolle spielte. Interessant! Mit Hilfe von Musikern wird ein ganzes Heer niedergemacht. Die Beschreibung des alten Lexikons passte dann sehr gut zu Brecht Kriegsgedicht. Auf diese Weise konzipierte ich einen musikalischen Vortrag im Institut aus Anlass eines “Hauses voll Musik”. Nach dem Vortrag eines Stückes mit dem Titel “Agitatorischer Plan – für Violine und Tonband”, kam dann das Brecht-Gedicht, gesungen und danach ein Hörspiel mit dem Titel “Sybaris – Danza alla tedesca” (etwa 1987/88).

Das alles ist unter den amateurhaftesten Bedingungen passiert. Auf einem Tonband wurden zwei Spuren mit Violintönen aufgenommen und bei halber Geschwindigkeit abgespielt. Gleichzeitig kam vom Plattenspieler der “Danza alla tedesca” aus einem späten Streichquartett von Beethoben. Hinzu die eigene Sprechstimme, die den Lexikonartikel in Auszügen abliest. Alles zusammen dann über Mikrophon aufgenommen auf ein Kassettendeck. Ich glaube, nach dem dritten Versuch der Koordination verging mit die Lust an der Koordination. Dass die Idee hinreichend deutlich wurde, das war mir schon genug. Auch heute hätte ich wohl kaum Lust, das mit eigenen Mitteln zu perfektionieren. 

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2 Kommentare

  1. Ich habe das Brecht-Lied

    Ich habe das Brecht-Lied weniger als Kommentar zu einer verweichlichenden Wohlstandsgesellschaft gesehen, sondern eher als Kritik an einem weit verbreiteten Denunziantentum in einer spießbürgerlichen Gesellschaft. Insofern wäre jede Liedzeile als ein Stück „Nachbarschaftstratsch“ zu verstehen, also eine Situation, in dem sich zwei Spießer über ihren Nachbarn aufregen, obwohl der Anlass dazu völlig nichtig ist. Die Folgerung, daß ein Volk in dem solche Zustände herrschen untergehen muß, ist die typische Reaktion der Spießer, man vergleiche z.B. das immer mal wieder in konservativen Kreisen aufkommende Lamento über den Verlust der Werte und insbesondere die Deutsche Leit(d ?)kultur. Das wäre meine Interpretation.

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