23. November 2024 Alles muss raus!

taktlos 64: chormusik – die adorno-legende

Dummerweise ist mir ja einmal das Blog abhanden gekommen. Leider hats da auch Text verschmissen, auf die gelinkt worden ist. Diesen zum Beispiel:

taktlos 64 – chormusik – martin hufner 4.4.2003

Musik: Eisler: Track 1 Anfang 0:00 bis 0:10 dann unter den Text blenden

Sprecher: Die Chormusik in Deutschland hat es nicht leicht. Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren die Chorsänger die größte kulturelle Bewegung in Deutschland überhaupt. Insbesondere die große Anzahl an Arbeiterchören war erstaunlich. Und die damals fortschrittliche Musik fand Eingang auch ins Bewusstsein von Massen. Selbst der sublimste Komponist seiner Zeit, Anton Webern, dirigierte beispielsweise Arbeiterchöre mit Musik von Hanns Eisler und Gustav Mahler.

Musik: Eisler: Track 10 ab 0:45 wirklich frei bis 1:00 dann unterblenden

Sprecher: Durch die nationalsozialistische Machtergreifung wurde diese Chorbewegung gleichgeschaltet und zu einer Volkstumspflege-Organisation umgebaut. Von dieser, auch musikalischen Erniedrigung hat sich die Chorbewegung bis heute nicht richtig befreien können. Noch Ostern 1968 musste Theodor W. Adorno feststellen:

Zitatsprecher: „Allerdings kann ich mich des Verdachts nicht erwehren, daß bereits der Chorklang als solcher, wenn er nicht mit aller kompositorischen Kraft durchgeformt ist, etwas Illusionäres in sich enthält; den fatalen Anschein einer sogenannten heilen, geborgenen Welt inmitten der ganz anderen hervorbringt. … die Chorgeselligkeit erzeugt künstliche Wärme.“

Sprecher: Gewiss, seit 1968 hat sich einiges getan. Die Spannbreite der gegenwärtigen Chormusik reicht von professionellen Opernchören über experimentelle Ensembles wie die Berliner „Maulwerker“ bis zu den Fischer- und überalterten Kirchenchören. Jenseits der professionellen Ensembles ist die deutsche Laienchormusik, anders als beispielsweise in den nord- oder osteuropäischen Staaten, überwiegend ein Hort kultureller, musikalischer und politischer Rückständigkeit geblieben. Und nur Kritik der Laienchormusik kann sie vor sich selbst retten. Adorno beendete seinen Artikel „Chormusik und falsches Bewußtsein“ mit der hoffnungsvollen Forderung.

Zitatsprecher: „Kritik an der Gesangsvereinspraxis hat zu denen, welche ihr verfallen sind: zu ihrer menschlichen Möglichkeit, mehr Zutrauen, als die billige Humanität, die sie lassen möchte, wie sie sind.“

Musik: Adorno Track 9 ab 1:24 unter dem Text einblenden.

Alles auch zum Nachhören als Real-Audio 2:56 Min. – taktlos 64: Chormusik, komplett im nmz-netz

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3 Kommentare

  1. Nein! Kann ich nicht mehr

    Nein! Kann ich nicht mehr nachvollziehen. Vielleicht, weil ich erst nach dem Adorno-Zitat geboren bin? Oder weil ich immer in Norddeutschland gelebt habe? Oder gar in Hamburg, der deutschen Hauptstadt ambitionierter Kirchenmusik?

    Jedenfalls habe ich – und in meiner aktiven Chor-Zeit war ich noch ein radikaler Linker, das wäre mir also aufgefallen – diesen Muff nie erlebt, egal in welchem Chor.
    Und immer, selbst im schlechten Schulchor, haben wir auch Musik des 20. Jahrhunderts gebracht. Lustigerweise habe ich in meiner Gesangskarriere nicht einmal das Weihnachtsoratorium von Bach gesungen…

    Hab ich nur Glück gehabt? Oder gibt es da ein Gefälle?

  2. Wolfgang, ja und nein. Was

    Wolfgang, ja und nein. Was deine spezifischen Erfahrungen angeht, die kann ich nur hinnehmen. Das war dann wohl so. Der Überblick fällt naturgemäß schwer und so kann mein Artikel auch nur, wenn überhaupt, sinnvoll scheitern. Es gibt 61.000 Chöre in Deutschland mit 3,2 Millionen Mitgliedern. (Quelle: http://themen.miz.org/cgi-b…)

    Die in diesem Artikel aufgeführten Statistiken sind beeindruckend. Seit 1965 hat sich offenbar die Zahl evangelischer Kirchenchöre verdoppelt und bei den Katholiken ist um die Hälfte dazu gekommen. Das nehme ich hin und zur Kenntnis 😉 Ebenso wie die Entstehung neuer Vokalensembles wie die “No Angels”, “Bro’Sis”, “Overground” und die “Preluders”. Wenn man mal sieht, wie viele sich mühen, den Status des Popsängers zu erreichen.

    Damit ist sicher einiges erwähnt und nichts erklärt. Hanns Eisler hat in den 30er Jahren noch heftig für das “richtige Singen” gestritten. Nicht, dass gesungen wurde war sein Problem, sondern “was” gesungen wurde und mit welcher Haltung. “Auch unser Singen muss ein Kämpfen sein” heißt es da deutlich. Gut das war in den 30er Jahren. In den 50er und 60er Jahren war eine Entideologisierung des Singens angesagt, Restauration, Wiederaneignung eines bürgerlichen Bidermeier, sozusagen. Dagegen hatte Adorno was, das war für ihn die “falsche Wärme”, das Vorgaukeln von “Geborgenheit” in einer Welt (Gesellschaft), die den Schalter längst umgelegt hatte. Das kann der Herr Adorno und der Herr Hufner alles bemängeln – richten wird sich niemand danach. (Wir haben ja beide unser unglückliches Vergnügen, vieles Schlechtzureden oder Schlechtzudenken.)

    In den 70er und 80er Jahren hat es Untersuchungen gegeben, vor allem bezogen auf sogenannte Arbeiterchöre (Werkschöre), die “diese” Form des Muszierens als Auslaufmodell kennzeichneten. Und nun haben wir auch die Rückzugschöre, die Aufbauchöre (mit anspruchsvollem Programm, die sich deutlich am nordeuropäischen Modell orientieren) und die medial konstituierten Chöre. Das macht alles noch komplizerter.

    Persönliche Nebenbemerkung: Der Chorklang ist ungeheuer. Einmal habe ich Verdis Don Carlos in Essen gehört. Die Chöre sind beeindruckend, da rieselt es den Rücken runter und rauf. Und in der zitierten taktlos-Sendung kann man am Ende ein Stück von Rachmaninow hören. Wer das live mitbekommen hat, der war hin und weg. Solch eine Dynamik vom Lauschen zum Überwältigwerden. Grandios. So etwas zu spüren, kann jemandem, der mit der Überwältigungsästhetik schnell Probleme bekommt, eine harte Lehre sein. Da ist man hingezogen und abgestoßen zugleich; allerdings mehr hingezogen in diesem Fall.

    Ich selbst hege ja Argwohn gegen solche Kollektive (habe auch nie im Chor gesungen und im Orchester nicht gerne gespielt). Aber wenn man “das” hört, möchte man irgendwie doch gerne dazu gehören.

  3. ok, Arbeiterchöre und auch

    ok, Arbeiterchöre und auch bürgerliche Männerchöre (Liedertafeln etc.) habe ich auch in nicht so grandioser Erinnerung (ja, selbst einen Arbeiterchor habe ich noch von weitem gesehen).

    Diese bombastischen Sachen, von denen du erzählst, machen auch mehr Spaß beim Zuhören als beim Singen, finde ich – selbst Schuberts Messen empfand ich immer etwas fad bei der Aufführung (ganz anders bei den Proben, noch ohne das Orchester und die Solisten).

    Aber es ist doch beeindruckend, wenn ein wirklich nicht guter Laienchor es schafft, einen Gesualdo sauber zu singen 🙂

    In Hamburg ist Kirchenmusik immer noch etwas Besonderes (insofern viel Spaß bei der Orgelexkursion): Wo immer du wohnst, findest du in Fahrradentfernung einen Chor mit beinahe semiprofessioneller Ausrichtung, der von einem wirklich guten A-Musiker geleitet wird und sich spannende Literatur erarbeitet.

    Thema Kollektive: Da teile ich die grundsätzliche Skepsis – es hat aber durchaus auch etwas Spirituelles.

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