„Composing for the Films: Adorno, Eisler and the sociology of music"
(Historical Journal of Film, Radio and Television, Vol.18, No.4, 1998
I. Komposition für den Film – Entstehung, Ästhetik, Soziologie
Wenn man verallgemeinernd annimmt, daß mit bestimmten historischen Situationen zugleich deren Analysen vom Verfall betroffen sind, so wird auch ein altes Buch veralten. Wenn sich also die Lektüre des alten Buches noch lohnen sollte, so weil in ihm etwas steht, was aktuell geblieben ist oder was zu Anschlußbetrachtungen reizen kann. Das von Theodor W. Adorno und Hanns Eisler verfaßte Buch „Komposition für den Film" ist ein solches Buch. Es hebt sich von der modernen Filmmusikliteratur übrigens schon vom Titel her ab. Es heißt nicht „Filmusik" oder „Musik und Film". Die Betonung liegt auf dem Begriff der „Komposition" und zeigt dadurch deutlich an, daß es vorrangig von Fragen der Produktion von Musik im Zusammenhang mit dem relativ neuen Massenmedium „Film" handelt. Es geht sowohl um den gesellschaftlichen Standort des Komponisten innerhalb der Produktionsprozesse wie auch um konkrete kompositorische Arbeiten für den Film. Dabei erscheint die Musik immer nur als ein hinzutretendes Medium, wie sehr künstlerisch die Musik auch durchgestaltet sein mag.
Betrachtet man die zeitgenössische Literatur zum Thema Filmmusik, so handelt es sich dabei um vorwiegend praktisch orientierte Werke, die untersuchen, welche Wirkung Musik innerhalb eines Filmes entfalten kann. Es geht um Rezeption, musikbeeinflußte Wahrnehmung von Bildern etc. Von solchen Erwägungen ist tatsächlich ein Teil der Untersuchung Eislers und Adornos geprägt. Es allein auf diese Weise verstehen zu wollen, ist soviel wie nichts verstanden haben. Der eigentliche Zielpunkt der Autoren liegt tiefer, geht auf Grundsätzliches. „Komposition für den Film" ist wie die „Philosophie der neuen Musik" von Theodor W. Adorno ein ausgeführter Exkurs zur „Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Adorno, also der fast zeitgleich beendeten erkenntnistheoretischen Hauptschrift einer „Kritischen Theorie der Gesellschaft". Für die Herangehensweise, für den Angriffspunkt einzelner Kulturphänomene ergibt sich so ein neuer Blickwinkel. Die allein fachwissenschaftliche Untersuchung liefe ins Leere, wenn sie nicht den Zusammenhang von geistiger und materieller Produktion mitbedenkt.
Entstehung
„Komposition für den Film" wurde zwischen 1940 und 1944 im amerikanischen Exil im Zusammenhang meherer verschiedener Forschungsprojekte der Rockefeller Foundation verfaßt. Hanns Eisler wurde die Leitung „Film Music Projects" übertragen, während Adorno innerhalb des „Princeton Radio Research Projects" arbeitete. Obwohl an unterschiedlichen Stellen engagiert, taten sich beide Autoren zusammen. „Es lag nahe, daß die Autoren, die mit ihrer praktisch- und theoretisch-musikalischen Arbeit seit vielen Jahren wechselseitig genau vertraut sind, sich verbanden, um einiges zu formulieren" (S. 9), schreiben sie in der Vorrede des Buches. Damit löste sich der Inhalt des Buches von seinem eigentlichen Entstehungsanlaß. Das ursprüngliche „Film Music Project" wird allein im entsprechenden Kapitel abgehandelt. Das „Project" war „zunächst mehr auf praktische Experimente als auf Theorie" (S. 110) ausgerichtet. Erst danach erfolgte die theoretische Auswertung der praktischen Erfahrungen. Der Inhalt von „Komposition für den Film" reicht von soziologischen Erwägungen bis zu einem praktischen Experiment, der Musik „14 Arten den Regen zu beschreiben" von Hanns Eisler. Es war keineswegs beabsichtigt „etwa eine Übersicht über die gegenwärtige Filmmusik und ihre Richtungen zu geben" (S. 9).
Die spätere Publikationsgeschichte selbst besitzt kriminalistische Züge. Gestritten wurde darum wer maßgeblich das Buch verfaßte, wer wann und aus welchem Grund Streichungen und Hinzufügungen vorgenommen hatte. Für die Bedeutung des Buches ist es allerdings zweitrangig, wer den Löwenanteil der Arbeit und der Formulierung trug.
Traumindustrie Hollywood
Geprägt und angeregt wurde das Buch selbstverständlich vom Ort seiner Entstehung. In unmittelbarer Nähe zur Traumfabrik Hollywood, dem damals wie heute paradigmatischen Namen und Synonym für den Film als typischem Produkt der Massenkultur. Das Buch beginnt vehement mit der Prämisse: „Der Film kann nicht isoliert, als eine Kunstform eigener Art, sondern muß als das charakteristischte Medium der gegenwärtigen Massenkultur verstanden werden, die sich der Techniken der mechanischen Reproduktion bedient" (S. 13). Wenngleich man diese Einengung der Filmkunst auf die Produktionsöffentlichkeit „Kino" heute nicht mehr akzeptieren kann, so trifft sie doch – heute wie damals – auf den größten Teil der produzierten Filme zu.
Die Autoren räumen mit vielen Clichés und Vorurteilen einer funktionalen Theorie auf, die nur mit pseudopsychologischen und traditionellen Argumenten arbeitet. Es gelte „keinerlei ,Erfahrungsregeln’ in der Filmmusik ungeprüft anzuerkennen. Wo es keine echte Erfahrung gibt, hat sie auch keine Regeln" (S. 136). Zu diesen falschen Erfahrungen zählen sie: falsche Übertragung des Leitmotivgedankens in die Sphäre des Films (S. 15 f.), der Ruf nach „Melodie und Wohllaut" (S.16 ff.), die Vorurteile „Filmmusik soll man nicht hören" (S. 19 ff.) und der „Gebrauch von Musik muß optisch gerechtfertigt sein" (S. 21 f.) oder die Zurichtung der Musik auf „Illustration" (S. 23 f.). Und ihre Abwehr geht vor allem auch gegen eine Stereotypisierung musikalischer Artikulation, nicht zuletzt eine Folge der fortschreitenden Arbeitsteilung – der Komponist tritt in der Regel erst gegen Ende der Produktion in diese ein. Musik ist und bleibt so die Magd des Herrn, namens Regisseur bzw. Produzent.
Nähme man das Ergebnis ihrer schließlich formulierten „Ideen zur Ästhetik" – „Soviel ist wahr: zwischen Bild und Musik muß eine Beziehung bestehen" (S. 70) – als den Ziel- und Endpunkt ihres Vorhabens, so stünde man eigentlich vor gar nichts. Besieht man sich aber zu diesem Zweck die Filme der Gegenwart, so bleibt selbst von diesem Anspruch in der Mainstream-Film-Kultur vieles im Argen. Da die Filmproduktion ein kostenintensives Unterfangen ist, sucht man jede Chance, finanzielle Lücken zu stopfen. Als beliebt und ertragreich hat sich dabei das Verfahren der Auskoppelung von Soundtracks erwiesen, höflich auch Zweitverwertung genannt. Solche Musik sollte jedoch auch ohne Film zu goutieren sein, was die Forderung nach einer Beziehung zwischen Bild und Ton auf ein Minimum herabsetzt. Allerdings hat man sich auf diese Weise mit dem Film kombinierte Musik so gewöhnt, daß man tatsächlich eine Beziehung wahrzunehmen scheint.
Film und Neue Musik
Aber an diesen Fragen hängen sich die Autoren nicht auf. Beide stammen ihrer musikalischen Sozialisation nach aus dem Schönberg-Kreis. Beide haben komponiert. Eisler hatte zudem viele Erfahrungen als Komponist von Filmmusik gesammelt. Mit besonderem Anliegen verfolgen die Autoren die Spuren der neuen Musik in der Geschichte des Films. Schwer zu entscheiden, ob die vielen dissonanten Klänge und Farben ohne die Entwicklung der neuen Musik zu begreifen wären. Neue Charaktere, Ausdrucksgesten, dramaturgisch motivierte Übertreibungen und scharfe Kontrastbildungen sind nichts Ungewöhnliches mehr, drängen sich geradezu dem „technischen Prinzip des jähen Bildwechsels" (S. 46) auf. Kein Horrorfilm und kein Cartoon kommt ohne sie aus. Jedoch hat das nicht zu einem besseren Verständnis der neuen Musik als solcher geführt. „Alle eigentlich Neue Musik nach Strauss ist esoterisch geblieben", schreiben Eisler und Adorno (S. 60). Man kann vielleicht sogar soweit gehen, die Annahme nicht unbegründet erscheinen zu lassen, daß die real exisitierende Filmmusik die Abspaltung der neuen Musik vom breiten Publikum erst richtig zementiert hat. Mit den Filmen sickert „konventionelle" Musik nicht nur ein in das Bewußtsein einer jetzt nicht mehr so kleinen bürgerlichen Konzertgemeinde, sondern erfaßt ein massenhaftes Publikum. Zugleich tritt ein weiteres Phänomen auf: Neue Musik wird in breiten Schichten vornehmlich visuell wahrgenommen. Unmittelbar springen die Erfahrungen des Kinobesuchs auf die Wahrnehmungsweisen Neuer Musik über. Musik wird so zum Bildton. Daß dies einer ungehinderten Rezeption neuer Musik nicht gerade förderlich sein kann, leuchtet ein. Ähnliche Phänomene beobachtete Adorno im Rahmen des „Radio Research Projects".
Die Produktionsweise von Filmmusik und „autonomer Musik" unterscheidet sich so stark, daß die Autoren sagen können: „In Wahrheit geht kein ernsthafter Komponist aus anderen als materiellen Gründen zum Film" (S. 59). Stattdessen entwickelt sich die Spezies „Filmmusikkomponist", neuerdings sprachlich auch als „Sounddesigner" auftrumpfend.
Stereotypie – Mainstream
Betrachtet man den Mainstream der Filmgeschichte, so bleibt nichts anderes übrig, als seine Perspektivlosigkeit, sein Stillstehen zu konstatieren. Die oben angesprochenen Stereotypen haben sich festgesetzt. Was an Filmsprache sich geändert hat in den letzten 100 Jahren ist kaum der Rede wert, ebenso wenig tat sich auf dem musikalischen Sektor. Neuerungen betreffen allein den technisch-praktischen Teil – sonst gibt es so wenig Bewegung wie in der populären Literatur zwischen Courths-Mahler und Konsalik. Während in der parallelen Geschichte des Hörspiels Ende der sechziger Jahre die Verhältnisse zwischen Wort, Geräusch und Musik neu durchdacht wurden, fand der Paradigmenwechsel in der Filmgeschichte im kunsttechnischen Sinne nicht statt. Adorno und Horkheimer beschreiben dieses Phänomen in der Dialektik der Aufklärung sehr eindringlich: „Bei allem Fortschritt der Darstellungstechnik, der Regeln und Spezialitäten, bei allem zappelnden Betrieb bleibt das Brot, mit dem Kulturindustrie die Menschen speist, der Stein der Stereotypie" (Dialektik der Aufklärung, S. 177). Man gelangt „raketenschnell von dort, wo man ohnehin ist, dahin …, wo es nicht anders ist" (ebenda). Und so verzaubert einen das Staunen vor der Technik, vor Dolby-Surrond und „special effects".
II. Integrale Musik
Filmkunst und Musik
Das betrifft freilich nur den Mainstream. Es gibt einen Film vor Hollywood wie es ein daneben und danach gibt. Die Namen Dziga Vertov, Hans Richter, Walter Ruttmann, Luis Buñuel sollten da fallen, später mindestens Jean-Luc Godard, Alexander Kluge, Wim Wenders. Alle sie arbeiten mit einem komplexen Verständnis des Begriffs der Montage. Durchkonstruktion der filmischen Struktur, der Erzählung durch Bilder, gesellt sich eine montierte Musik hinzu, die häufig genug integraler Bestandteil der dramturgischen Anlage ist. Anders als beim Spielfilm, dessen Drehbuch „immer noch überladen ist vom ererbten Gut aus der Literatur und der Theaterdramatik", schreibt Peter Weiss, „geht es … um einen Ausdruck von Emotionen, von Gedankenketten, die sich der Vernunft oft entziehen" (Peter Weiss, Avantgarde Film, S. 299 f). Eine andere Filmsprache, eine andere Form der Erzählung, fordert geradezu eine andere Musik – sofern sie überhaupt nötig ist. Daher führt ein Weg von René Clairs Entr’acte (in Zusammenarbeit mit Duchamp, Picabia und Satie) direkt zu Alexander Kluges Montage-Filmen. Sobald der Film in das Stadium der Reflexion tritt, das heißt mehr sein will als eine Werbung für sich selbst und die Umstände, die ihn ermöglichen, sobald kann auch die Musik ihren Platz suchen. Das eben zeigt sich schlagend an den Filmen von Godard und Kluge. Es wundert da nicht, daß Godard und Kluge häufig in das Repertoire der Musikgeschichte greifen. Seinen Grund hat dieses Vorgehen bestimmt nicht allein in fehlenden ökonomischen Ressourcen. Aus Alt mach’ Neu: Wem die künstlerische Sprache zufällt, dem fallen alle Möglichkeiten zu. „Das bedeutet," schreiben Adorno und Eisler, „daß vergangene und überholte Materialien der Musik, wenn sie wirklich vom Film mobilisiert werden, nicht ausverkauft werden, eine Brechung erfahren, die sich ebensosehr auf den Ausdrucksgehalt wie auf ihr rein musikalisches Wesen bezieht" (S. 81).
Alexander Kluge: „Die Patriotin" – Musik als Erfahrungserkenntnis
In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf Alexanders Kluges Film „Die Patriotin" von 1979 aufschlußreich. Der gesamte Film ist eine riesige Bild-Film-Musik-Montage. Neben einer dramatischen Ebene, die zugleich nicht linear verfährt, ist Bild- und Filmmaterial aus 2000 Jahren deutscher Geschichte benutzt. Es gibt keine eigens für diesen Film komponierte Musik. Sondern es handelt sich um Musikstücke aus dem „klassischen" Repertoire (von Bach, Beethoven, Sibelius, Skriabin bis hin zu Eisler) wie auch um Werke der „leichten Musik". In der Anfangssequenz (Szene 3) wird ein dämmriges altes Fimmaterial mit toten oder sterbenden Soldaten in ein Bild aus dem zweiten Weltkrieg verblendet. Darunter und darüber liegt ein Ausschnitt des ersten Teils aus Hanns Eislers Triptychon „Das Vorbild". In Szene 6 sieht man Landschaftsfahrten über Stoppelfelder, Naturbetrachtungen, Burgruinen und dazu ein gesellt sich ein karges Prelude von Alexander Skriabin. Wieder später (Szenen 10-13): Blick auf eine Großstadt in der Dämmerung, verschleierte Kopfaufnahmen, schließlich ein Flugangriff mit Bombeneinschlägen. Als Musik hört man Sibelius’ „Der Schwan von Tuolena", die nur kurz von Flugzeuggeräuschen übertönt wird. Zwischen all diesen Musikbeispielen und Bildern gibt es nun keinen direkten semantischen Bezug. Gleichwohl könnte man ihn herstellen in einer sehr vielschichtigen Form: Unter Berücksichtigung der Werkgeschichte der symphonischen Dichtung von Sibelius beispielsweise. In einem frühen „Entwurf" beschreibt Sibelius das Aroma der Szene so: „Tuonela, das Reich des Todes – die Hölle der finnischen Mythologie –, ist von einem breiten schwarzen Wasser und reißendem Lauf umgeben, auf dem der Schwan von Tuonela majestätisch und singend daherzieht" (zit. nach Reinisch, Der Schwan von Tuonela, S. 3). Und dazu paßt die filmische Montage von dämmernder Landschaft, Gesicht und Krieg. Diese Programmatik muß man allerdings nicht wissen, im Gegenteil. Das montierte Material in der „Patriotin" ist derart assoziativ, daß der Eindruck des Films in der Konstellation der verschiedenen Materialien sich ausbreitet. Es wird nichts direkt ausgesprochen, alles bleibt vage und verdichtet sich dadurch zu etwas Konkretem, das man gleichwohl nicht benennen kann. Alexander Kluge schreibt: „Genau dies ist nach meiner Vorstellung Erzählkino, nämlich Geschichten erzählen, und was ist die Geschichte eines Landes anderes, als die weiteste Erzählfläche überhaupt? Nicht eine Geschichte, sondern viele Geschichten. Das bedeutet Montage. … Montage ist in der Filmgeschichte ‘Die Formenwelt des Zusammenhangs’." (Kluge, Die Patriotin, S. 40 f.) Historische Musik zu verwenden mit all ihren „vagen" Implikationen, ist daher konsequent. Bild, Film, Kommentar und Musik erregen auf ihre ganz persönliche Weise Erfahrungen. Aber sie beherbergen auch geschichtliche Erfahrungen, irrationales Bewußtsein, in sich. Mit diesen Mitteln geschichtliche Emotionen und ein unterirdisches Wissen freizusetzen, ist Thema des Filmemachers Kluge. Dieser Film über die deutsche Geschichte benötigt den Zuseher und Zuhörer, der ja selbst an einem Punkt der Geschichte steht und aus dieser Sicht heraus den Film für sich zusammensetzt.
Während Adorno und Eisler in „Komposition für den Film" noch weitgehend in den Kategorien von „Nachahmung", „Korrespondenz" und „Kontrast" über den Wirkungszusammenhang von Bild und Musik reden, und damit in einer tradionellen Sichtweise dieses Verhältnis behandeln, geht Kluges Verfahren auf Erkenntnis. Das wird sogleich deutlich, wenn man auf Adornos „philosophisches Verfahren" schaut wie es sich erstmals 1932 geäußert hat: „Es handelt sich nicht um ein Erklären von Begriffen auseinander, sondern um Konstellation von Ideen, und zwar der Idee von Vergänglichkeit, des Bedeutens und der Idee der Natur und der Idee der Geschichte" (Adorno, Die Idee der Naturgeschichte, S. 359). Es gibt hier ein Zusammenwirken gerade bei der Nutzung von dokumentarischem Material, das Adorno im Anschluß an Karl Marx und Georg Lukács frühe Theorie wie eine Natur behandeln würde: Nämlich als „zweite Natur", als die Welt der Konventionen. Durch die Art der Montagetechnik bei Kluge wird diese Natur wieder in geschichtliche Erfahrung zurückübersetzt. Das meint letztendlich das Schlagwort „Aus Alt mach’ Neu". Die Verwendung der „Ode an die Freude" aus Beethovens Neunter Sinfonie gegen Ende von Kluges Film (Abschnitt XII, Silvester. ‘Lied an die Freude’) steht auf diese Weise in einem ganz anderen Licht. Dieses Licht wird wie im Spektrum aufgeteilt in eine persönliche, subjektive soziale Lebenserfahrung einerseits und in ihre geschichtliche Substanz, die in der Szene des lauten Durcheinanderredens einer Gruppe von Frauen den Text außerhalb des Droge Musik wieder zu Bewußtsein bringt. Die semantische Popularität der Neunten Sinfonie von Beethoven wird abgebaut, geschichtliche konventionelle Erfahrung zerschlagen und neu zusammengesetzt.
Man kann das Verfahren vielleicht Ent- und Umprogrammierung von semantischen Fixierungen nennen. Eine Methode, die den ganzen Film durchzieht, da in der „Patriotin" gleiche Musikstücke mit unterschiedlichem Bildinhalt zusammengebracht werden. Beides fängt dann im Laufe des Filmes an, in eine Wechselbeziehung zu treten. Denn nicht nur die Emotionen von Bildern sondern auch die Emotionen von Musik durchkreuzen sich gegenseitig. Alles fängt an sich in Konstellation mit anderem zu befinden. Das Montageverfahren wird identisch mit dem Kernproblem des Film, wie es die „Patriotin Gabi Teichert" in Abschnitt III „Auf dem Parteitag" formuliert: „Ich bin Geschichtslehrerin. Ich bin hierhergekommen, weil ich die Geschichte mit Ihnen zusammen verändern will. … Ich bin der Meinung, daß das Material für den Geschichtsunterricht … nicht positiv genug ist, weil unsere deutsche Geschichte auch nicht positiv genug ist. Ich möchte jetzt ein andere Material kriegen. … Wir müssen erst die Geschichte verändern, damit wir ein anderes Material bekommen." (Kluge: Die Patriotin, S. 75 f.). Die „Filmmusik" in Kluges „Patriotin" ist daher als „Filmmusik" falsch verstanden. Die Musik ist „geschichtliches Erbe" und „Material", das in seiner Bedeutung ebenso verändert wird wie die Geschichte (History) selbst.
Rainer Werner Fassbinder: „Die dritte Generation" – Alles ist Musik
Fassbinders „Die dritte Generation" von 1979 (Musik: Peer Raben) funktioniert anders. Der Film ist fast komplett begleitet von Musik. Diese Musik ist aber meistens Bestandteil der dramatischen Szenen selbst. Sie ist ein Bereich, der gleichrangig mit Bild und dokumentarischem Medienton (laufend kommt Sprache und Musik aus Radios, Videorecordern und Fernsehern) in der Szene sitzt. Schon der Vorspann zeigt diese gleitende Verschmelzung an. Man hört so etwas wie das Pulsieren eines Herzens. Aber dies ist nicht ein Original-Herzton sondern ein synthetisch hergestellter Ton. Was real szenisch ist und was hinzukomponiert ist, läßt sich kaum unterscheiden. Das ist die integrale Gestalt dieses Films: es gibt nichts Beiläufiges mehr. Insofern gibt es auch keine Filmmusik, sondern nur noch das Erfahrungsmedium Film. Man muß keine Beziehung zwischen Bild und Musik herstellen, weil beide Sphären gar nicht zu trennen sind.
Jean-Luc Godard: „Nouvelle Vague" – Film als Gesamtkunst
Auch in Jean-Luc Godards Film „Nouvelle Vague" (1989) bilden Text, Bild, Geräusch und Musik einen integralen aber vagen Zusammenhang. Tatsächlich gibt es von diesem Film einen Soundtrack, der den Film komplett (nur eben ohne Bild) wiedergibt. Man vermag in Godards Film nicht entscheiden, ob die der Einsatz von Musik durch den dramaturgischen Apparat gerechtfertigt ist oder ob es nicht genauso gut anders herum der Fall ist.
Die Vergleichgültigung der Filmindustrie
Damit kommt man wieder sehr deutlich an den Begriff der Filmkunst heran, der – nach ihren Anfägen zu Beginn des Jahrhunderts – erst wieder seit den sechziger Jahren emphatisch verfolgt wird. Der amerikanische Filmemacher Stan Brakhage beispielsweise propagierte das Streben nach einem Wissen, daß „auf visueller Kommunikation sich gründet, eine Entfaltung des optischen Geistes erfordert und von der Wahrnehmung im ursprünglichen und tiefen Sinn des Wortes abhängt" (zit. nach Jansen, Das Bild von der Rückseite des Mondes, S. 245). Es scheint so, daß erst die Emanzipation der Filmkunst vom reinen Gewerbe, die Kunstgattung Film in ihren rechten Stand versetzen kann. An deren Anfang mögen der Russische Formalismus, später die Pop-Art, an deren Ende etwa Werke der Bildenden Kunst von Bill Viola und Gary Hill stehen. Bild, Sprache, Geräusch, Musik werden im Zusammenhang begriffen. Darum mochte die Banalität des Satzes von der notwendigen Beziehung von Bild und Ton nicht ganz in den Wind geheult sein. In ihren Abschlußstatements heißt es denn: „Aber nur wenn die Musik zu jeder einzelnen Sequenz deren genaue Erkenntnis und die Erwägung der besonderen Funktion im bestimmten Fall einbegreift, ist zu hoffen, daß sich in der Filmmusik etwas besseres regt" (S. 136). Die Zeichen dafür stünden gar nicht schlecht, denn seit der Entstehung von „Komposition für den Film" ist die Zeit nicht stehengeblieben. Kaum jemand wird heute noch die Bedeutung der Filmindustrie ähnlich hoch veranschlagen. Mit der massenbedeutsamen Entthronung des Films durch die neuen Medien wie Fernsehen, Internet und „Boulevard-Blatt" verschwindet wesentlich der Charakter des Mediums „Film" als „dem" vorherrschendem Ort gesellschaftlicher Manipulation. So kann man heute – durchaus im Gegensatz zu der These der Autoren, daß der Film keine eigene Kunstform darstelle – eben auch wegen der partiellen Vergleichgültigung der Bedeutung der Filmindustrie, Nischen einer autonomen Filmkunst finden. Darin zeigt sich ein Phänomen der gesamten populären Kultur: Durch ihr Wuchern kämpft sie gegen sich selbst an; dies eröffnet Räume für die Besetzung neuer Zwischenbereiche.
Literatur:
- Theodor W. Adorno: Die Idee der Naturgeschichte, in: Adorno: Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt am Main 1973.
- Theodor W. Adorno / Hanns Eisler: Komposition für den Film, in: Adorno: Gesammelte Schriften Band 15, Frankfurt am Main 1976.
- Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947.
- Peter W. Jansen: Das Bild von der Rückseite des Mondes – Filmtheorie und Pop-Art, in: Akzente – Zeitschrift für Dichtung, 15. Jg. (1968), S. 235–245.
- Alexander Kluge: Die Patriotin, Frankfurt am Main 1979.
- Frank Reinisch: Der Schwan von Tuonela, Vorwort zur Partitur, Wiesbaden o. J.
- Peter Weiss: Avantgarde Film, in: Akzente – Zeitschrift für Dichtung, 10. Jg. (1963), S. 297–319.