Sprecher:
Die zeitgenössische Musik braucht Kontroversen. Ohne öffentliche Kontroverse wäre sie vermutlich nur eine andere Art des Hochschulsportes. Alle paar Jahre gibt es die großen ästhetischen Streitereien. Schönberg gegen Strawinsky, Serialismus gegen Aleatorik, Neue Einfachheit gegen die Vision einer Negativen Musik. Neuerdings befürchtet man die Unterwanderung der kratzbürstigen Neuen Musik durch Weichspülerwerke aus Osteuropa und Amerika. Infektionsgefahr droht! Die Gefahr hat einen Namen: Tonalität.
Sprecher:
Die zeitgenössische Musik braucht Kontroversen. Ohne öffentliche Kontroverse wäre sie vermutlich nur eine andere Art des Hochschulsportes. Alle paar Jahre gibt es die großen ästhetischen Streitereien. Schönberg gegen Strawinsky, Serialismus gegen Aleatorik, Neue Einfachheit gegen die Vision einer Negativen Musik. Neuerdings befürchtet man die Unterwanderung der kratzbürstigen Neuen Musik durch Weichspülerwerke aus Osteuropa und Amerika. Infektionsgefahr droht! Die Gefahr hat einen Namen: Tonalität.
Während man in der sogenannten „Ernsten Musik“ Grabenkämpfe über ein solches Thema führt, spielt diese Unterscheidung in der sogenannten U-Musik keine Rolle. Tonalität und Atonalität mögen Kategorien sein, die in den versteinerten Musikwissenschaftshallen oder auf Kongressen behandelt werden. Natürlich immer kontrovers, natürlich immer mit Spaltungs- und Identifikationszwang. In Rock- und Popmusik ist eine solche Teilung hinfällig. Das ist schon darum der Fall, weil der Ton als solcher nicht so wichtig genommen wird. Im Techno und im Macrodub-Jungle könnte man den Tonalitätsfaktor übrigens nach tpm, das heißt nach Toniken pro Minute berechnen. Zahlen um 140 sind da keine Seltenheit. Und weil es nur die Tonika gibt, gibt es keine Tonalität. Denn Tonalität ist ja nichts weiter als ein Bezugssystem, bei dem es mindestens einen Bezug einer Tonart zu einer anderen geben sollte. Alec Empire: „When you’re reached your peak, it’s time to die.“
Musikbeispiel 1:
Alec Empire 20 Sekunden
Sprecher:
Hier geht es um den Sound. Und der Sound umfaßt mehr als nur Töne. Es geht hier um die Summe musikalischer Eigenschaften: Rhythmus, Metrum, Instrumentation, Lautheit, Tempo, Dichte, musikalische Sprachcharaktere. Musikalische Visionen in der Popmusik reichen bisweilen in extreme Klangerzeugnisse hinein. Mit Schmiegsamkeit an Ohren hat das gar nicht mehr zu tun. Hören Sie zum Beispiel den Anfang des Stückes „Ventolin“ von Aphex Twin.
Musikbeispiel 2:
Aphex Twin 20 Sekunden
Sprecher:
Tonal oder Atonal, wäre das hier die richtige Frage? Wohl kaum. Und weil man sich nicht derartige Begrenzungspfähle aufpflanzt, sind die musikalischen Dimensionen in so viele Richtungen offen. „Welcome to Liberty City“ von Mark Stewart & The Mafia zeigt dieses Phänomen ganz gut an. Aus der Jamaikanischen Dub-Musik kommend, streift das Stück schließlich das Studio für elektronische Musik in Köln ohne dort landen zu müssen. Die avancierte Rock- und Popmusik ist multinational, multilingual, polykulturell. Und sie ist vor allem eines nicht: dogmensteif.
Musikbeispiel 3:
Mark Stewart & The Mafia 30 Sekunden
Musikbeispiele:
* Alec Empire: When You’ve Reached Your Peak, It’s Time To Die.
Auf Kassette Minute 0 bis 1
* Aphex Twin: Ventolin
I care because you do, Side B, Nr. 2, Anfang. Erschienen auf „Warp“ Bestellnummer: Warp LP 30, kein Labelcode. Published by Chrysalis Music. Made in England. P + C Warp 1995.
* Mark Stewart & The Mafia: Welcome to Liberty City,
Roots of Innovation, ON-U LP 92PIC, EFA 12929-1, LC 8619