Man könnte meinen, daß über die Musik des frühen 20. Jahrhunderts wirklich alles Wesentliche gesagt worden ist. Monographien über Komponisten, ihre Musik, ihre Ästhetik gibt es in rauhen Mengen. Doch Martin Thruns Studien zum Musikleben sind wirklich neu, einzigartig zumal, außerdem brillant formuliert. Thrun untersucht die sozial-, rezeptions- und institutionsgeschichtlichen Bedingungen, die zur Konstitution der Neuen Musik im deutschen Musikleben bis 1933 geführt haben.
Es geht zum Beispiel um Schönbergs "Mißerfolgs-Erfolge", die "öffentliche Wirkungslosigkeit" der Schönbergianer, und den Aufstieg von Hindemith, Krenek und Jarnach. Thrun stellt dar, wie explizit Urteile der Musikkritik dazu beigetragen haben, das unfreiwillige Dreigestirn Mahler, Strauss und Reger ins Abseits der veralteten Moderne zu stellen. Analysiert werden die späte Bartok -Rezeption, die Besonderheiten der Bekanntwerdung Strawinskys und ausführlich der "Fall," das "Problem" Schönberg. Speziell für die Rezeption Schönbergs seien die frühen Kuriosa erwähnt: Nahm man vielfach zu Beginn seine Musik als Skandalon wahr, nannte man ihn "Neutöner", "Umstürzler", "Revolutionär", "Anarchist" "Futurist", "Wildester der Modernen" oder "ultravioletten Musiksezessionisten" (in den 10er Jahren), so wurde sie wenig später schon häufig als veraltet angesehen (ab Mitte der 20er Jahre). Thrun betrachtet in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Donaueschinger Musiktage und zitiert Max Rieple: "Man erblickte im Weg der ‘Wiener Schule’ eine hoffnungslose, bald sich von selbst erledigende Sache". Man überholte Schönberg nun auf den sogenannten "Zügen der Zeit": "Gebrauchsmusik", "Film- und Rundfunkmusik", "Gemeinschaftsmusik", das waren neue Zauberworte. Da mußte freilich ein Chameläon wie Hindemith (oder auch Krenek) ihn sowohl links wie rechts überholen.
Die kleinsten Verästelungen des Musikbetriebes durchforstet Thrun betriebsam ohne dabei in der Flut der emprischen Daten zu versinken. Das ist eben die besondere Stärke des Buchs: Nie verliert des Autor den roten Faden, immer bleibt er sachlich und neutraler Beobachter. Eine reife Frucht sozialgeschichtlicher Analyse, Instiutionen- und Rezeptionsgeschichte; und das alles mit dem Wissen, wie die Musik klingt, über die da gesprochen wird.