Musikbeispiel:
Die Braut haut ins Auge, Alles was ihr wollt,
Best.: 74321 17435 2 LC: 0316 //// Track Nr. 9. BMG Ariola
Sprecher 1:
Frau und Musik.
Wenn man diese Kombination als einen Schlachtruf in die kulturpolitische
Debatte wirft, so muß man sich nicht wundern, wenn seit einiger
Zeit kein Echo an den Absender zurückeilt. Dies hat natürlich
vielfältige Gründe. Nicht nur, daß Tic Tac Toe längst
von einem anderen Ort ganz anders zurückrufen, nein, der Separatismus,
den bestimmte Frauengruppen betreiben, ist in letzter Zeit hart angegangen
worden. Frau und Musik impliziert zugleich aber unausgesprochen den Widerpart
Mann und Musik. Die Position, die eine deutliche Differenz zwischen Frau
und Mann ausmacht, erscheint veraltet und wurde innerhalb der Entwicklung
des Feminismus zuletzt nachdrücklich von Judith Butler kritisiert.
Sprecher 2:
Butler kritisierte
die Suche nach Geschlechtsidentität, als Folge eines Gesellschaftsprozesses,
der seine Grundlage in einer Form von Zwangsheterosexualität herstellt.
Was heißt das? Gemeint ist damit, daß bestimmte Teile der
Frauenbewegung" Differenzen zwischen Mann und Frau überbetonen.
Es entwickelten sich zum Beispiel die Stereotypen von der Frau als dem
weichen, friedliebenden Subjekt. In der Musiktheorie fand das seine Ausprägung
in der Unterscheidung zwischen einer weiblichen und männlichen Ästhetik.
Clara Schumann versus Franz Liszt. Nach dieser Auffassung gibt es spezifisch
natürliche Differenzen zwischen Mann und Frau. Christine Hohmeyer
kritisierte diese Haltung:
Sprecher 1:
Wenn
Frauen universell eine andere Moral, ein anderes Arbeitsvermögen,
eine andere Erfahrung zugeschrieben wird, dann wird es auch leichter,
ihnen (wieder) einen dementsprechenden Platz innerhalb der Gesellschaft
zuzuweisen."
Sprecher 2:
Der Anstoß,
den Horizont um die Frauen/Männer-Problematik zu erweitern, kam aus
den USA. In den 80er Jahren entstand dort eine neue Disziplin namens gender
studies", die sich mit geschlechtsspezifischen Fragestellungen beschäftigt.
Nicht gemeinsame Forschungsgegenstände
waren das verbindende Element, sondern das Erkenntnisinteresse. Prämisse
ist die Annahme, daß Zusammenhänge zwischen biologischem Geschlecht
und gesellschaftlicher Stellung produziert und angelernt sind. Die wissenschaftlichen
Grundlagen dieser Annahme, Psychoanalyse, Kognitionspsychologie und Behaviorismus,
haben gezeigt, daß Geschlechterrollen nicht universell vorgegeben
sind.
Sprecher1:
In der deutschen
Forschung behielten Gender studies" ihre englische Bezeichnung,
da der deutsche Begriff Geschlecht" nicht alle Dimensionen
des englischen Pendants gender" erklären kann. In der
englischen Sprache unterscheidet man zwischen dem biologischen Geschlecht,
sex", und der soziologisch gesellschaftlichen Klassifizierung
des Geschlechts, gender". Gender" repräsentiert
veränderbare, kulturell bedingte Geschlechtszuschreibungen, die Beziehungen
der Geschlechter zueinander und das Verhältnis des einzelnen zur
Gesellschaft organisieren.
Gender Studies"
im allgemeinen fragen nach Machtstrukturen in der Gesellschaft, die die
Rollen der Geschlechter determinieren, arbeiten Interessen bestimmter
Gesellschaftsgruppen an der Erhaltung dieser Strukturen heraus und stellen
Alternativen zur Veränderung vor. Im Gegensatz zur rein feministischen
Forschung gehen sie nicht von der Prämisse aus, daß Männer
machtbesessene Tyrannen sind, deren alleiniges Ziel es ist, Frauen zu
unterdrücken. Sie fordern dementsprechend auch nicht die Unterdrückung
unter umgekehrten Vorzeichen. Der Ansatz sucht nach gemeinsamen Lösungen
für Männer und Frauen.
Was aber dahinter
steckt ist noch entscheidender: Es geht nicht mehr um Frauen oder Männer,
sondern um eine allgemeine Emanzipation. Das heißt, sich frei machen
von heteronomen Zwängen, eine Politik der Autonomie entwickeln. Diese
greift auf das gesamte soziale Leben über. Christine Hohmeyer schreibt
dazu:
Sprecher 2:
Nicht
die eindimensionale Herrschaft des Patriarchates bedroht universell die
individuelle Autonomie, sondern vielfältige kulturelle Normen, die
in unser Alltagsleben selbstverständlich eingelassen sind. Ausgrenzung
bedeutet nicht nur die strukturelle Unterdrückung von Frauen, sondern
die Klassifizierung von Menschen überhaupt. Damit begänne eine
Politik der Autonomie zuallererst mit einem tiefen Mißtrauen gegenüber
den alltäglichen Gewohnheiten des Denkens und gegenüber dem,
was unserer Wahrnehmung so scheinbar selbstverständlich geworden
ist."
Sprecher 1:
Auf musikalische
Fragestellungen übertragen heißen gender studies":
Bewußtmachen der Verflechtung außermusikalischer Faktoren
mit dem innermusikalischen Geschehen, d.h. konkret die Auswirkungen zu
untersuchen, wie die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen auf das
musikalische Schaffen einwirken.
Themengebiete sind
wie erwartet die Erforschung von Frauenkompositionen, Lebensläufen
von Musikerinnen und Dirigentinnen, aber vor allem das Konfrontieren altbekannter
Sachverhalte mit geschlechtsspezifischen Fragestellungen auf der anderen
Seite.
Sprecher 2:
Ein Beispiel:
In der musikalischen Analyse werden noch heute Themen oder Motiven Eigenschaften
von Geschlechtern zugeschrieben: Bestimmte, männliche, harte Themen
auf der einen Seite, ruhige, schwache, weibliche Themen auf der anderen
Seite. Dur = männlich, Moll= weiblich. Man könnte die Wortkette
fast endlos fortsetzen. Dagegen suchen die gender studies"
nach neuen, geschlechtlich wertfreien Sachurteilen.
Sprecher 1:
Gender
studies" in der Musikwissenschaft verstehen sich keineswegs als Nische
für frustrierte Wissenschaftlerinnen, die es in der richtigen Welt
nicht schaffen, sondern wollen Diskussionsforum für Männer und
Frauen sein. Die Einlösung dieses Anspruchs erweist sich jedoch als
schwierig: Spezielle Fraueninstitute, wissenschaftliche Frauenzeitschriften,
Frauen-können-auch-komponieren-Festivals und Frauen-sind-nicht-schlechter-als-Männer-Wettbewerbe
sind oft das ausschließliche Forum. Diese Selbstghettoisierung bringt
zwar zuerst Aufmerksamkeit, mittelfristig täuscht sie wissenschaftliche
Nestwärme vor, langfristig ist sie jedoch ein Grab voll Selbstbeweihräucherung.
Musik:
Neneh Cherry: Manchild, Circa Records, LC: 3098, Bestnr. 209 930 (Track
2)
Sprecher 2:
Da verwundert es auch nicht, daß die erste umfassende Tagung zum
Thema nicht von renommierten Vertretern des Fachs, sondern vom Dachverband
der Studierenden der Musikwissenschaft ausgerichtet wurde.
Eine gleichberechtigte
Aufnahme in den Kanon der geisteswissenschaftlichen Fächer ist noch
längst nicht in Sicht. Doch erste Schritte sind gemacht: Seit dem
WS 1997/98 gibt es einen Magisterstudiengang Gender Studies"
an der Humboldt-Universität in Berlin. Er ist interdisziplinär
konzipiert, mit Lehrveranstaltungen zu Rechtswissenschaften, Architektur,
Medizin, Politikwissenschaft, Germanistik, Geschichte, Kunst und Musik.
Weitere Studiengänge in Oldenburg, Potsdam, Freiburg und Hannover
sind im Aufbau.
© 1999 die Autoren,
Bayerischer Rundfunk und neue musikzeitung. Alle Rechte vorbehalten
Literatur:
- Judith Butler,
Das Unbehagen der Geschlechter, Ffm 1991
- Christine Hohmeyer,
Politik der Autonomie ..., in: Leviathan, Zeitschrift für Sozialwissenschaft,
1998 (4)
- Forum Musik Wissenschaft
Band 4: Gender Studies, Regensburg 1998
- Herbert Marcuse,
Zeit-Messungen, Ffm 1975
- Thema Musik Live,
Hat Musik ein Geschlecht, Regensburg 1997
- Günter Jakob,
Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer, Berlin-Amsterdam
1993
- Argument Sonderband
110, Geschlechterverhältnisse, Berlin 1983
- Krise des Marxismus
oder Krise des Arguments - Marxismus, Ideologie, Politik, hg. H.H. Holz
et al. Ffm 1984
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